Rätsel um "Waldjungen" von Berlin:Er kam aus dem Nichts

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Wer ist dieser Jugendliche, der sich selbst Ray nennt und plötzlich im Berliner Rathaus stand? Die Polizei rätselt über die Identität eines Teenagers, der behauptet, die vergangenen fünf Jahre im Wald gelebt zu haben. Er macht nur wenige Angaben zu seiner Vergangenheit - und die werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten.

Alexandra Aschbacher und Alexander Menden

Gemeinhin wird er als der "Waldjunge" bezeichnet. Aber als der Teenager, der sich selbst Ray nennt, am 5. September vergangenen Jahres scheinbar aus dem Nichts im Rathaus der deutschen Hauptstadt auftauchte, griffen manche Berichterstatter zum Spitznamen "Kaspar Hauser von Berlin".

Es gibt ja tatsächlich ein paar Parallelen zum Fall des Findelkindes Hauser. Auch dessen Herkunft war völlig unklar, als er 1828 in Nürnberg gefunden wurde, auch bei ihm gab es zunächst sprachliche Hürden zu überwinden. Doch während Kaspar Hauser nur einen begrenzten Wortschatz hatte, sprach Ray gebrochen Deutsch, aber gutes Englisch. Dem Rathaus-Pförtner sagte er, er sei "all alone in the World" - ganz allein auf der Welt.

Nach neun Monaten ist immer noch nicht klar, wer der "Waldjunge" ist. Die Berliner Ermittler haben nun erstmals ein Foto von Ray veröffentlicht. Es zeigt einen jungen Mann zwischen 16 und 20 Jahren, 1,80 Meter groß, mit blondem Beatles-Schopf, blauen Augen und einem etwas schüchternen Lächeln. Es ist ein weiterer Versuch zu klären, wer da 2011 aus dem Wald kam.

Seine Erzählungen geben Rätsel auf

Die Geschichte, die er der Polizei damals erzählte, gab mehr Rätsel auf als sie löste: Dort, im Wald, habe er fünf Jahre lang gelebt, behauptet Ray. Vorher sei er "durch viele Städte und Länder gewandert", gemeinsam mit seinem Vater Ryan. Seine Mutter Doreen sei zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen; einziger Hinweis auf ihre Existenz ist ein Kettenanhänger mit dem Buchstaben "D", den der "Waldjunge" bei sich trug.

Auch der Vater sei dann 2011 gestorben, so Rays Version der Ereignisse, und er habe ihn im Wald beerdigt. Vor seinem Tod habe sein Vater ihn angewiesen, "immer nach Norden" zu gehen, Richtung Berlin. Doch bisher hat man weder auf der tschechischen Seite des Erzgebirges noch in Österreich, wo die Polizei das Grab vermutete, eine Leiche gefunden.

Und die Behauptung, er habe jahrelang in freier Wildbahn gelebt, ist kaum mit dem sauberen und ziemlich gepflegten Zustand zur Deckung zu bringen, in dem Ray sich im Berliner Rathaus meldete. Seine Besitztümer bestanden aus einem Zweimannzelt der Marke Freetime, einem Outwell-Schlafsack und einem Reiserucksack. Er hatte drei Narben auf der Stirn und drei kleinere an Kinn und rechtem Arm. Die Leichtigkeit, mit der er technische Geräte wie Laptop und Handy bedient, erweckt nicht den Eindruck, er habe sein Leben lange fernab jeder Zivilisation gefristet.

Als sehr hilfreich hat sich der "Waldjunge" bei den Versuchen, seine Identität zu klären, bisher nicht erwiesen. Er habe sich bei Fragen nach seiner Vergangenheit vielmehr quergestellt, berichtet der Berliner Polizeisprecher Michael Maaß. Angeblich hat der Junge, der mittlerweile gut Deutsch spricht, in einer betreuten Wohngemeinschaft lebt und vom Jugendamt einen Vormund zugeteilt bekommen hat, keine Ahnung, wer er ist, und wo er herkommt. Nur sein Geburtsdatum kennt er: den 20. Juni 1994.

Dass sein Foto erst jetzt veröffentlicht wurde, liegt daran, dass er diesem Schritt nur zögernd zustimmte. Sein Englisch ist zwar akzentfrei, aber das heiße noch lange nicht, dass er ein britischer oder amerikanischer Muttersprachler sei, meint ein von der Polizei konsultierter Sprachexperte. Die Untersuchungen von Sprachexperten legen eher den Schluss nahe, dass er Englisch als Zweitsprache erworben habe. Was seine tatsächliche Muttersprache ist, weiß bisher niemand.

Rays Geschichte erinnert an andere Fälle

Seltsam erscheint den Berliner Ermittlern jedenfalls, dass Ray so gar kein Interesse daran zu haben scheint herauszufinden, wer er ist und wo er herstammt. "Er winkt schnell ab bei diesem Thema. Er sagt, es kenne ihn sowieso niemand mehr", meint Polizeisprecher Maaß. Rays DNA wurde mit sämtlichen Vermisstenmeldungen abgeglichen und auch an Interpol geschickt - ohne greifbares Ergebnis.

Mehr als 50 Hinweise sind seit der Veröffentlichung des Fotos bei der Polizei in Berlin eingegangen - es werden laufend mehr. Bislang jedoch seien wenig konkrete Angaben darunter gewesen, es handle sich vielmehr um "gute Ratschläge oder um Filme und Bücher mit ähnlichen Geschichten", sagt Maaß.

Rays Geschichte erinnert an andere Fälle. So wurden zwei junge Franzosen zehn Jahre lang von ihrem Vater in den Pyrenäen versteckt. Vor drei Jahren wurde der Vater zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Im Jahr 2007 wiederum wurde ein 43-jähriger Amerikaner bei Koblenz aufgegriffen - nach vier Jahren in der "Wildnis". Die Trennung von seiner Freundin hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen.

Stimmt Rays Geburtsdatum jedenfalls, so feiert er kommende Woche seinen 18. Geburtstag. Er kann dann selbst entscheiden, wie es mit ihm weitergeht. Aber wie lebt man weiter, wenn man nur seinen Vornamen kennt und keinerlei Dokumente besitzt? "Es gibt keine Routinefälle für solche Situationen", sagt Michael Maaß. Irgendwann werde sich Ray zumindest mal einen Nachnamen suchen müssen.

© SZ vom 15.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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