Prozessauftakt gegen Boston-Attentäter:Zarnajew plädiert auf "nicht schuldig"

Sein Bruder ist tot. Dschochar Zarnajew steht nun wegen des Anschlags auf den Boston-Marathon allein vor Gericht. Ihm droht die Todesstrafe. Genau richtig, findet eine Mutter, die ihre Tochter verloren hat. Der 19-jährige Zarnajew bezeichnet sich als "nicht schuldig".

Von Antonie Rietzschel

Auf dem Rücken liegend, das Gesicht blutverschmiert - So hat die Welt Dschochar Zarnajew das letzte Mal gesehen. Am 20. April ist das Foto in den US-Medien erschienen, unter der Schlagzeile: Gefasst. Es ist der Tag von Zarnajews Verhaftung.

Mittlerweile weiß auch jeder, wie Dschochar Zarnajew aussah, bevor der 19-Jährige zum Terroristen wurde. Bevor er am 14. April gemeinsam mit seinem Bruder Tamerlan einen Anschlag auf den Boston-Marathon verübte, bei dem drei Menschen starben und mehr als 260 weitere verletzt wurden. Dunkle Locken, ebenmäßige Augenbrauen, große braune Augen - ein hübscher Junge.

Nun kommt ein weiteres Bild hinzu: Zarnajew in orangener Häftlingskleidung, Hände und Füße gefesselt, erscheint er zur Verlesung der Anklageschrift im Gerichtsaal. Sein erster öffentlicher Auftritt seit der Verhaftung dauert nicht länger als sieben Minuten. Am Ende plädiert er in allen Punkten auf "nicht schuldig". Ungefähr 30 Opfer und Angehörige der Verletzten und Toten sitzen im Gerichtsaal.

Insgesamt umfasst die Anklage 30 Punkte, darunter den Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Diese Formulierung ist ein Kniff des US-Justizministeriums, um Zarnajew vor ein Bundesgericht stellen zu können. Würde ihm nur als Mörder der Prozess gemacht, wäre sein Fall vor einem Gericht des US-Bundesstaates Massachusetts verhandelt worden. Da er aber von den Vereinigten Staaten angeklagt wird, droht ihm nun die Todesstrafe, obwohl Massachusetts sie eigentlich nicht erlaubt.

Mehrere Opfer, die bei dem Bombenanschlag verletzt wurden oder Angehörige verloren haben, sagten der Zeitung Boston Globe vor der Anhörung, sie hätten kein Interesse, an dem Prozess teilzunehmen. "Ich weiß nicht, ob ich dort sein will", sagte Patricia Campbell.

Campbells 29-jährige Tochter Krystle starb, als die erste Bombe in der Nähe der Ziellinie explodierte. Gleichzeitig wolle sie verstehen, was einen Menschen dazu treibe, eine Bombe in der Nähe von Menschen zu platzieren, die lediglich gekommen waren, um andere anzufeuern.

Verstehen. Das wollen seit der Verhaftung von Dschochar Zarnajew nicht nur die Opfer, das will das ganze Land: Wie wurde aus einem klugen, beliebten und athletischen jungen Mann ein Fanatiker voller Hass?

Dschochar veränderte sich

Eine zufriedenstellende Antwort fehlt bislang. Doch ein Teil davon könnte sein Bruder Tamerlan sein. Gemeinsam haben sie den Anschlag geplant und ausgeführt. Dschochar schaute zu seinem großen Bruder auf. Tamerlan war das Oberhaupt der aus Tschetschenien stammenden Familie. Er hatte diese Rolle übernommen nachdem Mutter und Vater die USA verlassen hatten und nach Russland gegangen waren.

Tamerlan war anders als sein jüngerer Bruder sehr religiös. Ein früherer Freund von Dschochar beschreibt der New York Times wie Tamerlan ihn und Dschochar dazu zwang Bücher über die Grundsätze des Islam zu lesen. Von Dschochar ist bekannt, dass er regelmäßig betete. Seinen Lehrern erklärte er, das sei eigentlich nicht sein Ding. Als er am 11. September 2012 seine US-Staatsbürgerschaft bekam, sei er sehr aufgekratzt gewesen, erzählt sein ehemaliger Zimmernachbar der Zeitung.

Tagelange Flucht

Doch plötzlich veränderte sich Dschochar. Im März dieses Jahres schrieb er auf Twitter: "Mehr als ein Jahrzehnt in den USA - ich will raus." Im April: "Wie vermisse ich meine Heimat Dagestan." Der Student liest islamistische Propaganda. Er, der eigentlich Ingenieur werden wollte, erklärt einem Freund kurz vor dem Boston-Marathon: "Geht es um Schule oder das Ziel ein Ingenieur zu werden, kannst du leicht betrügen - aber nicht wenn du in den Himmel kommen willst. Gott ist alles, was zählt." Wenige Tage später explodierten die Sprengsätze. Tamerlan und Dschochar zündeten sie aus sicherer Entfernung mit einem Handy.

Die Brüder geraten schnell ins Visier des FBI. Vier Tage nach der Tat töten sie einen Polizisten. Die beiden sind auf der Flucht. Es kommt zu einer Verfolgungsjagd mit der Polizei, mit Sprengkörpern versuchen die Zarnajews ihre Verfolger abzuschütteln. In Watertown, einem Vorort westlich von Boston können sie schließlich gestoppt werden. Es fallen Schüsse. Die Brüder liefern sich ein Feuergefecht mit den Beamten.

Tamerlan wird schwer verletzt. Dschochar gerät in Panik. Er überrollt seinen Bruder beim Fluchtversuch mit dem Auto und verschwindet. Tamerlan bleibt zurück und stirbt. Ein Onkel von Dschochar fordert den 19-Jährigen im Fernsehen auf, sich zu stellen: "Falls du lebst - gib auf. Und bitte deine Opfer um Vergebung", schreit er wütend in die Kamera.

"Auge um Auge"

Nach einer groß angelegten Suchaktion finden die Polizisten Dschochar schwer verletzt in einem Boot. Der Besitzer hatte Blutspuren gesehen und die Polizei gerufen. Kurz vor seiner Verhaftung schreibt er eine Botschaft an die Bootswand. "Wir Muslime sind wie ein Körper - verletzt ihr einen von uns, verletzt ihr uns alle", eine Anspielung an den Einmarsch von US-Truppen in den Irak und Afghanistan.

Dschochar kommt in ein Krankenhaus, wegen einer Wunde am Hals kann er lange nicht sprechen. Nun muss er im Gericht über die Hintergründe der Tat Rede und Antwort stehen. Sollte er bereit sein, ein umfassendes Geständnis abzulegen, könnte Dschochar ein langwieriger Prozess erspart bleiben. Rechtsexperten gehen davon aus, dass Ankläger und Verteidiger sich entsprechend einigen.

Für Dschochar würde das lebenslange Haft bedeuten. Ob das den Opfern und Angehörigen als Strafe reicht, ist fraglich. Patricia Campbell wird wohl nie über den Verlust ihrer Tochter hinweg kommen. Sie bezeichnet sich im Gespräch mit der Zeitung Boston Globe zwar als langjährige Gegnerin der Todesstrafe. Dennoch sagt sie abschließend: "Unter diesen Umständen wäre Auge um Auge angemessen."

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