Prozess wegen Kindsmord:"Geküsst und geknuddelt"

Die Eltern der zu Tode gequälten Siri aus Wetzlar sind schon verurteilt, vor Gericht geht es nun um die Rolle des Jugendamts: Eine Mitarbeiterin soll die Verletzungen des Babys ignoriert haben. Zeugen bestätigen jedoch das Bild einer nach außen hin heilen Familie.

Sie haben ihre Tochter monatelang misshandelt und gequält, wegen Mordes an ihrem acht Monate alten Kind wurden sie verurteilt - doch auf die Nachbarn haben die Eltern von Siri den Eindruck einer liebevollen Familie gemacht. Das geht aus Zeugenaussagen im Prozess gegen die angeklagte Jugendamtsmitarbeiterin hervor, die Hämatome in Siris Gesicht, eine frische Verletzung am Mund und einen gebrochenen Arm ignoriert haben soll. Die Mitarbeiterin bestreitet die Vorwürfe.

Prozessauftakt gegen Jugendamts-Mitarbeiterin wegen Koerperverletzung durch Unterlassen

Fall der zu Tode gequälten Siri aus Wetzlar: Eine Jugendamtsmitarbeiterin ist wegen Körperverletzung durch Unterlassen angeklagt.

(Foto: dapd)

Vor dem Wetzlarer Schöffengericht sagten zwei unmittelbare Nachbarn, ein Rentner-Ehepaar, aus. "Ich hatte den Eindruck, sie lieben ihr Kind abgöttisch", erklärte der 63-jährige Mann. Seine Frau bestätigte dies. Die Eltern hätten ihr Baby immer wieder "geküsst und geknuddelt".

Tatsächlich aber war Siri monatelang von ihren Eltern gequält worden. Das Baby erlitt Knochenbrüche, Hämatome, wurde mit heißem Wasser verbrüht und aus dem Schlaf gerissen. Im Mai 2008 starb Siri mit acht Monaten an den Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas. Ihre Eltern wurden im Juli 2009 zu lebenslanger Haft wegen Mordes mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt. Vor Gericht hatten sie sich immer wieder gegenseitig beschuldigt, ihr Kind misshandelt zu haben.

Die Nachbarn gaben beim zweiten Prozesstag an, zunächst geglaubt zu haben, dass Siri unter unwürdigen Bedingungen aufwachse. Ständig seien bei der Familie die Rolläden heruntergelassen gewesen. Deshalb verständigten sie das Jugendamt. Dann besuchten Siris Eltern die Nachbarn jedoch - und die Rentner änderten ihre Meinung.

Siris inhaftierter Vater wurde am heutigen Donnerstag als Zeuge vorgeführt, verweigerte jedoch die Aussage. Er ließ durch seinen Anwalt ausrichten, dass er nicht bereit sei, weitere Angaben zu dem Fall zu machen. Die Staatsanwaltschaft war der Meinung, ihm stehe kein Aussageverweigerungsrecht zu und beantragte die Verhängung eines Ordnungsgeldes.

Die angeklagte Sozialarbeiterin bekräftigte ihre Aussagen vom ersten Prozesstag. Ihr seien bei zwei Besuchen im Haus der Eltern keine Verletzungen des Kindes aufgefallen. Sie hatte ebenso wie die Nachbarn von einem liebevollen Umgang der Eltern mit Siri gesprochen.

Nun macht sich die Frau selbst schwere Vorwürfe. Sie frage sich, wie die Eltern sich derart positiv hätten darstellen können. Der Fall Siri sei im Nachhinein betrachtet der erste schwerwiegende Fall ihrer Dienstzeit gewesen, berichtete die 29-Jährige weiter. Sie sei vorher noch nicht mit dem Thema Kindesmisshandlung konfrontiert gewesen. Die aus Wetzlar stammende Frau hatte Sozialarbeit an der Fachhochschule Frankfurt studiert und 2007 ihren Abschluss erworben. Im selben Jahr trat sie ihre Stelle im Jugendamt der Stadt Wetzlar an.

Keine Anzeichen für Misshandlung bemerkt

Schon am ersten Prozesstag war die junge Frau auf der Anklagebank im Wetzlarer Amtsgericht mehrmals in Tränen ausgebrochen. Sie erzählte anfangs mit unsicherer, dann mit fester Stimme, was sich im Elternhaus der zu Tode gequälten Siri abgespielt hat. Dort war sie zwei Mal zu Besuch gewesen. "Ich habe selten so kooperative Eltern erlebt", berichtete sie.

Ein anonymer Hinweis hatte das Jugendamt auf die Spur der Familie gebracht. Ein Anrufer meldete, bei der Familie seien ständig die Rollläden heruntergelassen, die Eltern seien "Grufties" und gingen mit dem Kind nur abends spazieren. Daraufhin hatte die Sozialarbeiterin die Eltern zunächst zu einem Gespräch ins Jugendamt eingeladen, zu dem nur der Vater kam.

Um auch Mutter und Kind kennenzulernen, suchte sie die Familie etwa vier Wochen später erneut auf. Mit Siris Mutter habe sie wenig geredet, die aus Kanada stammende Frau spreche nur Englisch. Anzeichen dafür, dass es Siri nicht gut gehe, habe sie bei ihrem Besuch im Dezember 2007 nicht bemerkt. Auch bei ihrem zweiten Hausbesuch im April 2008, einem routinemäßigen Nachsorgetermin, sei ihr nur ein Pflaster auf Siris Stirn aufgefallen, erzählte die junge Frau. Der Erklärung der Eltern, das Baby habe sich beim Krabbeln gestoßen, habe sie geglaubt.

Auch Siris Mutter war am ersten Prozesstag als Zeugin gehört worden. Sie gab Siris Vater alle Schuld an den Misshandlungen. Der Mann sei dominant und manipulativ. Ihr Lebensgefährte habe die Sozialarbeiterin hinters Licht geführt. Die Angeklagte treffe "keine Schuld", sagte die Mutter.

Laut den ärztlichen Gutachtern wurden Siri einen Tag vor dem Hausbesuch im April 2008 Hämatome im Gesicht zugefügt. Im Mai sei sie derart abgemagert gewesen, dass die Augen des Babys tief in den Höhlen gelegen hätten. Erst ein zweiter Hinweis aus der Nachbarschaft alarmierte die Behörde Ende April 2008 erneut. Eine Nachbarin, die im Kinderschutzbund aktiv ist, meldete Zweifel an Siris Wohlergehen. Auf der Straße sei ihr aufgefallen, dass das Kind "spindeldürr" sei.

Die Sozialarbeiterin erreichte die Eltern nicht, fand schließlich über den Kinderarzt heraus, dass Siris Eltern nicht zu den anstehenden Vorsorgeuntersuchungen erschienen waren. Sie sprach Siris Vater auf die Mailbox, er solle umgehend einen Arzttermin vereinbaren. Dann, Anfang Mai, verabschiedete sich die Jugendamtsmitarbeiterin für zwei Tage in den Urlaub. "Als ich zurückkam, bekam ich die Nachricht, dass das Kind tot sei", sagte sie am ersten Prozesstag.

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