Prozess um Mord an vier Kindern:"Es war alles wie im Traum"

Als sich seine Frau am Telefon endgültig von ihm trennt, betrinkt sich Andreas S. und greift sich ein Messer. Dann geht er in die Schlafzimmer seiner Kinder. Vier Monate nach dem Mord an Lio, Lean, Noah und Pia steht der Vater jetzt in Hildesheim vor Gericht. An die Tatnacht will er nur vage Erinnerungen haben.

Hans Holzhaider, Hildesheim

Ilsede: Prozess gegen Vater von ermordeten Kindern

Vor Gericht bekannte sich Andreas S. zum Mord an seinen vier Kindern. Bei seinem Geständnis stand der Angeklagte sichtlich unter Anspannung.

(Foto: dapd)

Nach außen schien es eine nahezu perfekte Familie zu sein: Andreas S. und seine Ehefrau Tanja lebten in einem Einfamilienhaus in Groß Ilsede (Landkreis Peine), sie hatten vier Kinder: Lio, 5; Lean, 7; Noah, 9 und Pia, 12 Jahre alt. "Sie sind so liebevoll miteinander umgegangen, im Ton und in den Gesten", sagt Mareike B., eine Nachbarin. "Ich habe bewundert, wie sie sich ihre Liebe bewahrt haben."

Im April 2012 wurde offenkundig, dass diese schöne Fassade Risse hatte. Andreas S. trat eine Entziehungskur an, und seine Ehefrau vertraute der Nachbarin an, dass dies aus ihrer Sicht die endgültige Trennung bedeute. "Sie sagte, er habe Mist gebaut", berichtet die Nachbarin, "und sie hätte Angst, dass sie vielleicht eines Morgens nicht mehr aufwachen würde".

Aber dass die Ehe von Andreas und Tanja S. ein so schreckliches Ende finden würde, das war für alle, die die Familie kannten, außerhalb jedes Vorstellungsvermögens.

Vater auf der Anklagebank

Am späten Abend des 14. Juni, schnitt Andreas S., während seine Frau einen Kurzurlaub in Dänemark verbrachte, seinen vier Kindern mit einem Teppichmesser die Kehlen durch. Anschließend versuchte er sich selbst durch Schnitte in den Arm und den Hals zu töten, aber das misslang. Am Mittwoch begann vor dem Landgericht in Hildesheim der Prozess gegen den mörderischen Vater.

Andreas S. steht sichtlich unter großer Anspannung. Die Hände kneten ein Papiertaschentuch, seine Lippen beben. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters Ulrich Pohl, ob er sich zur Sache äußern wolle, bringt er nur mit großer Mühe einen Satz heraus: "Ich möchte nur sagen, ich hab's gemacht, es tut mir sehr leid, was ich meinen Kindern und meiner Frau angetan habe." "Er sieht sich schlichtweg nicht zu mehr in der Lage", sagt sein Verteidiger Henning Sonnenberg.

Vor dem Ermittlungsrichter aber hat Andreas S. fünf Stunden lang ausgesagt; das Protokoll dieser Vernehmung wird nun verlesen. Er schildert die glücklichen Jahre seiner 1999 geschlossenen Ehe. "Wirklich perfekt" sei sie gewesen, "vertrauensvoll und harmonisch, Tanja war alles für mich."

Vor drei oder vier Jahren aber habe er ein Alkoholproblem bekommen. Das sei ihm selbst nicht gleich bewusst geworden, aber es sei vorgekommen, dass er seine Frau geschlagen habe, nicht sehr, und auch nicht oft. Anfang Oktober 2011 aber sei es dann eines Abends zu einem Streit gekommen, er sei völlig fertig gewesen, und am nächsten Tag habe seine Frau ihm erzählt, er habe versucht, sie zu vergewaltigen. Er habe keinerlei Erinnerung daran.

"Meine Familie war alles für mich"

Die Frau nahm ihn mit zu ihrem Hausarzt, der diagnostizierte eine Depression und einen Erschöpfungszustand und schickte ihn zum Neurologen. Dieser verordnete eine Reha-Maßnahme, danach, sagte Andreas S. dem Ermittlungsrichter, sei es ihm wieder richtig gut gegangen, er habe mit Tanja schon darüber gesprochen, eine "zweite Eheschließung" zu feiern. Aber als er beim nächsten Grillabend wieder zur Bierflasche griff, habe die Ehefrau Schluss gemacht.

Er ging freiwillig in eine Entzugsklinik, und als er dort entlassen wurde, zog er in die Kellerwohnung bei seiner Schwester, nur 200 Meter vom Haus der Familie entfernt. Er ging oft hinüber, um die Kinder zu sehen, und er machte sich immer noch Hoffnung. "Ich sagte, wenn sie mich nicht zurücknimmt, bringe ich mich um", sagte er dem Richter. "Meine Familie war alles für mich. Ohne sie wäre ich total allein gewesen."

Am 9. Juni fuhr Tanja S. nach Dänemark. In einem Telefongespräch am 15. Juni schuf sie endgültig Klarheit: Es gebe keine Chance mehr für die Beziehung. Am Abend, nachdem er die Kinder ins Bett gebracht hat, geht Andreas S. in den Keller, nimmt sich ein Bier, dann noch eins. Dann, sagt er, setze seine Erinnerung erst wieder ein, als er am Bett des siebenjährigen Lean steht, das Messer in der Hand, "der Schnitt war schon ausgeführt". "Es war alles wie im Traum", sagt Andreas S.

SMS an die Ehefrau

Er geht zu Noah und tötet ihn, dann zu Pia, der Zwölfjährigen, die als einzige noch wach ist, und schließlich zu Lio, dem Jüngsten. Dann legt er die toten Kinder nebeneinander aufs Ehebett.

Um 23.05 Uhr bekommt Tanja S. in Dänemark eine SMS von ihrem Ehemann: "2012 geht die Welt unter, zumindest für mich. Herzlichen Glückwunsch, jetzt hast du dein eigenes Leben und das Geld (. . .) Ich kann ohne die Kinder nicht leben, das weißt du. Fünf Herzen haben aufgehört zu schlagen. Lebe wohl."

Tanja S. rief sofort ihre Schwägerin in Groß Ilsede an, die ging hinüber ins Haus ihres Bruders, dort war alles dunkel. Sie sah Blutspuren und alarmierte den Rettungsdienst. Als die Sanitäter ins Schlafzimmer im Dachgeschoss kamen, fanden sie Andreas S. auf der Bettkante neben den toten Kindern sitzend, das Teppichmesser in der Hand; er hatte sich tiefe Schnitte am Unterarm und am Hals zugefügt.

"Er sagte mehrmals, dass er bei seinen Kindern sein möchte, wir sollen ihn sterben lassen", berichtete einer der Sanitäter. "Aber der Kollege sagte, das werden wir nicht tun."

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