Prozess:Mindestens hundert Morde

Pfleger Niels Högel soll noch mehr Menschen umgebracht haben.

Von Thilo Adam

Es ist der wohl größte Serienmord in der deutschen Nachkriegsgeschichte: Mehr als 100 Menschen soll der ehemalige Krankenpfleger Niels Högel aus Niedersachsen getötet haben. Dies teilten Polizei und Staatsanwaltschaft nach dem Abschluss neuer Untersuchungen in Oldenburg mit. Damit korrigieren die Ermittler ihre bisherige Annahme von 90 Opfern noch einmal deutlich nach oben.

Der Fall sorgt seit mehr als einem Jahrzehnt für Aufsehen. Zwischen 2000 und 2005 hatte der Krankenpfleger Patienten mit einer Überdosis von Medikamenten in einen "reanimationspflichtigen Zustand" gebracht, um sich nach anschließenden, oft erfolglosen, Wiederbelebungsversuchen als Lebensretter feiern zu lassen - "zur Befriedigung seiner Eitelkeit", urteilte das Oldenburger Landgericht 2015.

Ob die ganze Dimension von Högels Taten jemals ans Licht kommt, ist fraglich

Wegen sechs solcher Taten verurteilte das Gericht Högel damals zu lebenslanger Haft: in zwei Fällen wegen Mordes, in vier weiteren wegen versuchten Mordes. Bereits 2005 war Högel zum ersten Mal festgenommen worden, Kollegen aus Delmenhorst hatten Verdacht geschöpft. Daraufhin wurde er wegen versuchten Totschlags zu fünf Jahren Haft verurteilt. Während er im Gefängnis saß, wurde er wegen weiterer Taten angeklagt. Im Prozess im Jahr 2015 räumte Högel dann selbst etwa 30 Morde pauschal ein. "Pauschal" bedeutet laut Staatsanwaltschaft: Högel hat den Überblick über die Einzelfälle verloren.

"Die Menschen waren Spielfiguren für Sie - in einem Spiel, in dem nur Sie gewinnen und die anderen alles verlieren konnten", sagte der Vorsitzende Richter damals. Das Gericht stellte eine besondere Schwere der Schuld fest, Högel kann also nicht darauf hoffen, nach 15 Jahren auf Bewährung entlassen zu werden.

Bald wird er sich erneut vor Gericht verantworten müssen, Anfang 2018 will die Staatsanwaltschaft in weiteren Fällen Anklage erheben. Denn die eigens eingerichtete Sonderkommission "Kardio" ließ innerhalb der letzten drei Jahre mehr als 130 weitere frühere Patienten der beiden Kliniken ausgraben und auf Medikamentenrückstände testen. Das Ergebnis: 62 weitere Todesfälle im Krankenhaus in Delmenhorst und 33 am Klinikum Oldenburg lassen sich Niels Högel zuordnen. Bei fünf weiteren Fällen aus Oldenburg besteht der Verdacht, die Untersuchungen seien aber noch nicht abgeschlossen, teilten Polizei und Staatsanwaltschaft mit. Auch auf Testergebnisse aus der Türkei warten die Ermittler noch. Dort waren weitere ehemalige Patienten begraben worden, die nun exhumiert und untersucht wurden. Die Zahl der nachweisbaren Opfer dürfte also weiter wachsen. Ob allerdings die ganze Dimension von Högels Taten jemals ans Licht kommt, ist sehr fraglich. Die Taten liegen lange zurück, zahlreiche Patienten wurden feuerbestattet. Und die Kriminaltechniker stoßen an weitere Grenzen: Vor allem Gilurytmal, ein Medikament gegen Herzrhythmusstörungen, lässt sich nach der Exhumierung zweifelsfrei nachweisen. Das ist jedoch nur eine der fünf Substanzen, mit denen Niels Högel seine Taten begangen haben soll.

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