Prozess in Essen:Auf dem Herzen blind

Sterbenden Rentner in Bank ignoriert - Prozessbeginn

Oktober 2016: Der hilflose Rentner liegt verletzt in einer Bankfiliale, eine Woche später stirbt er im Krankenhaus.

(Foto: dpa)
  • Ein Rentner stürzt im Vorraum einer Bankfiliale, bleibt bewusstlos liegen. Drei Menschen gehen nacheinander an ihm vorbei und ignorieren ihn.
  • Vor Gericht sagen sie aus, sie hätten den Sterbenden für einen Obdachlosen gehalten.
  • Die Angeklagte, bei der das Gericht am wenigsten Reue feststellt, gibt der Deutschen Bank die Schuld. Die Verteidigung sieht sie als Opfer des Medieninteresses.
  • Der Richter reagiert entsetzt auf ihr Verhalten, bestraft sie aber verhältnismäßig mild.

Von Christian Wernicke, Essen

Wie versteinert hockt die blonde Frau hinter dem weißen Tisch, wo die drei Angeklagten sitzen. Ihre großen Augen und ihr gebräuntes Gesicht zeigen keine Regung. Still, fast staunend beobachtet die 39-jährige Beschuldigte sich selbst. Denn das ist ja sie - sie ist jene schlanke Person, die am 3. Oktober 2016 um 17.14 Uhr die Filiale der Deutschen Bank in Essen-Borbeck betrat und die vier Stufen zu den Bankautomaten hochstieg. Die Sicherheitskameras im Vorraum der Bank haben jeden Moment aufgezeichnet. Sie sieht jetzt, was sie tat. Und vor allem: was nicht.

Das Video, das an diesem Montagvormittag im Saal 1 des Amtsgerichts auf dem großen Monitor zu sehen ist, hat alles dokumentiert: Die Sekunde, in der die Frau stehen bleibt, als sie zum ersten Mal den ausgestreckten Körper des Mannes mitten im Schalterraum liegen sieht. Den forschen Schritt, mit dem die Angeklagte dann unmittelbar am Kopf des Opfers vorbeihuscht und hinten in der Ecke ihre Bankgeschäfte erledigt. Die zwei, drei Blicke, die sie zur Seite wirft auf den 83-jährigen Rentner. Und den Elan, mit dem sie zwei Minuten später wieder aus der Bank stürmt. Ohne Rücksicht, kein Blick zurück. "Ach du liebe Zeit", stöhnt eine Zuschauerin hinten im Gerichtssaal auf.

Wegen unterlassener Hilfeleistung ist die 39-jährige Essenerin am Montag zu 3600 Euro Geldstrafe verurteilt worden. Der hilflose Rentner am Boden sei der Frau "völlig gleichgültig" gewesen, erklärte Richter Karl-Peter Wittenberg. Der 83-jährige Mann war am 3. Oktober dreimal gestürzt, mit dem Kopf auf die Fliesen geschlagen und eine Woche später an einem schweren Schädel-Hirn-Trauma im Krankenhaus verstorben. Das Video, das am Montag erstmals öffentlich präsentiert wurde, zeigt, wie der Mann dreimal in nur drei Minuten sein Gleichgewicht verliert, sich zweimal wieder aufrappelt - um dann hilflos liegen zu bleiben.

"So etwas habe ich noch nie gesehen", fuhr der Richter die Angeklagte an

Die Mitangeklagten, einen 55-jährigen Mann aus Oberhausen und einen 61-jähriger Essener, verurteilte das Gericht zu 2400 bzw. 2800 Euro Geldbuße. "Keiner wollte Hilfe leisten", sagte der Richter. Die beiden Männer, so hatte Staatsanwältin Nina Rezai anerkannt, hätten im Prozess Reue gezeigt. Bei der weiblichen Angeklagten hingegen sei "die ehrliche Reue nicht rübergekommen". Deswegen, und weil die Besitzerin zweier Trinkhallen mehr verdient, erhielt sie die höchste Strafe. Rezai hatte einen Schuldspruch verlangt "als Zeichen, dass wir uns nicht zu einer wegschauenden Gesellschaft entwickeln".

Der Borbecker Fall hatte im Herbst vorigen Jahres bundesweit Entsetzen ausgelöst. Politiker wie Kirchenvertreter warnten vor einer Verrohung der Gesellschaft, mahnten zu mehr Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit.

Für Manfred Gregorius, den Anwalt der 39-jährigen Essenerin, war es allein dieses laute Echo, das seine Mandantin nun vor Gericht zwang: "Wir hätten diese Anklage nicht, wenn es nicht das Medieninteresse gegeben hätte." Gregorius hatte "ohne jedes Zögern" für Freispruch plädiert: Die Angeklagten hätten nicht vorsätzlich einem verletzten Mann ihre Hilfe verweigert, sondern geglaubt, da liege und schlafe ein Obdachloser auf dem Boden: "Sie haben die Situation verkannt."

Das sah das Gericht anders. Zwar blieb das Urteil so milde, dass die drei Verurteilten weiterhin als nicht vorbestraft gelten. Auch erinnerte Richter Wittenberg in seiner Urteilsbegründung daran, dass der Rentner an seinen Sturzverletzungen wohl auch gestorben wäre, wenn die drei Angeklagten am 3. Oktober 2016 nicht weggeguckt hätten. Gleich zwei medizinische Sachverständige erklärten am Montag, das Opfer hätte auch dann nicht überlebt, falls die Hilfe zehn, 20 oder 30 Minuten früher herbeigeholt worden wäre: "Hier sitzen keine Monster", rief Wittenberg den Journalisten im Saal zu.

Und doch ließ der Richter durchblicken, wie sehr ihm die Videos der drei Überwachungskameras unter die Haut gegangen sind. "So etwas habe ich noch nie gesehen", fuhr Wittenberg die angeklagte Frau an, "wie Sie da ohne mit der Wimper zu zucken vorbeigehen" an dem gestürzten Mann. "Das zeigt schon eine gehörige Portion Gleichgültigkeit."

Tatsächlich ist auf einem der drei Videos zu erkennen, dass der offenbar verwirrte Rentner sich noch bewegte - und sich sogar die Nase schnäuzte. Der Mann hatte bei seinem letzten Sturz seine Kopfbedeckung verloren, die rote Schirmmütze lag 50, vielleicht 75 Zentimeter vom Körper entfernt an der Wand. Alle drei Angeklagten waren ungerührt zwischen Kopf und Kappe hindurch marschiert. Das Verfahren gegen einen vierten Beschuldigten, der mit seinem Rollator neben dem Opfer stand, wurde abgetrennt; er ist derzeit nicht verhandlungsfähig.

Die Deutsche Bank trage "einen Teil der Schuld", findet die Angeklagte

Mehr oder weniger deutlich ließen alle drei Angeklagten durchblicken, sie hätten den Rentner für einen angetrunkenen Obdachlosen gehalten. Die schliefen, so bestätigten zwei Polizisten, dort öfters, weil die Tür zum Automatenraum der Bank nur angelehnt sei. "Da liegen so oft diese Obdachlosen", verteidigt sich die 39-jährige Geschäftsfrau, "deshalb gehe ich da einfach nur geradeaus, mache meine Erledigungen und geh wieder raus." Ihre linke Hand durchschneidet dabei die Luft. "Sind denn Obdachlose nicht auch Menschen", will der Richter wissen. Sie habe Angst gehabt, erwidert die Frau, "dass mir da einer über den Schädel haut". Und eigentlich trage "einen Teil der Schuld die Deutsche Bank", denn die lasse ja auch ohne EC-Karte jeden rein in den Raum.

Die Behauptung, sie hätten den Rentner für einen Obdachlosen gehalten, ließ das Gericht nicht durchgehen. Zwei Polizisten sowie jener Zeuge, der damals als fünfter Bankkunde die Polizei alarmierte, bezeugten, dass der Rentner gut gekleidet gewesen sei. Die Frage von Verteidiger Gregorius, "aus welcher Veranlassung" er eingegriffen und geholfen habe, parierte der Zeuge: "Veranlassung war, dass da ein alter Mann war, der Hilfe brauchte." Ob er auch einem Obdachlosen beigestanden hätte, fragte der Anwalt. "Genauso", antwortete der Zeuge. Es ist eigentlich recht einfach.

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