Prozess in den USA:Stanford-Täter bedauert die Tat - und vor allem sich selbst

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Brock Turner (Foto: REUTERS)

Brock Turner hat in den USA eine junge Frau hinter einem Müllcontainer missbraucht. Seine Erklärung vor Gericht beginnt er mit dem Thema Schwimmtraining.

Von Tanja Mokosch

Man kann sich nicht ansatzweise vorstellen, was in der jungen Frau vorging, als sie den ersten Satz von Brock Turners abschließender Erklärung vor Gericht hören musste: "Der Tag begann wie die meisten anderen meiner Schultage damit, dass ich aufstand und zum Schwimmtraining ging", heißt es in dem elfseitigen Dokument, das jetzt von der New York Times veröffentlicht wurde. Es ist der Tag, an dem der 20-Jährige sein Opfer hinter einem Müllcontainer missbraucht hat. Dieser Tag begann also für ihn mit einer Runde Schwimmen.

Das Schwimmtraining - von Anfang bis Ende relevant

In ihrer eigenen Abschlusserklärung, die vor einigen Tagen im Netz veröffentlicht wurde, beschreibt die heute 23-Jährige, wie sie aus einem Zeitungsartikel erfahren hat, was ihr widerfahren ist. Sie selbst konnte sich an die Ereignisse nicht erinnern: Bewusstlos, halbnackt, die Genitalien voller Dreck, mit gespreizten Beinen wurde sie auf dem Campus der Universität Stanford in Palo Alto, Kalifornien, gefunden. "Und dann, am Ende des Artikels (...), standen da seine Bestzeiten im Schwimmen." Das Schwimmtraining des Elite-Studenten - von Beginn an absurd präsent in einer Debatte um sexuellen Missbrauch. Und offenbar bis zum Schluss relevant.

Turner erhielt eine Haftstrafe von sechs Monaten und drei Jahre Bewährung, musste sich außerdem als Sexualstraftäter registrieren lassen. Die vergleichsweise milde Strafe - der Staatsanwalt hatte sechs Jahre gefordert - hatte über die Grenzen der USA hinaus für Empörung gesorgt. Was, wenn Turner nicht der weiße, überprivilegierte Stanford-Student mit den beeindruckenden Bestzeiten im Schwimmen wäre? Hätte der Richter, der selbst eine Athleten-Vergangenheit an einer Elite-Uni vorzuweisen hat, dann auch ein solch mildes Urteil gesprochen?

Ausgerechnet mit dem Schwimmtraining begann Turner also seine Erklärung - eine Erklärung, in der er keinerlei Verantwortung übernimmt für das, was er noch immer nicht als sexuellen Missbrauch anerkennt.

Das wird im weiteren Verlauf des Dokuments deutlich: Turner beschreibt sich selbst als unmündigen Mitläufer. Er habe bei älteren Studenten aus seinem Schwimmteam beobachtet, wie sie Alkohol trinken und mit jungen Frauen tanzen. Wie sie sie später mit auf ihre Zimmer nähmen. Er habe keine Meinung dazu gehabt, wo die Gruppe als nächstes hingehen sollte. Sie gehen auf die Party, auf die auch sein späteres Opfer mit seiner Schwester gegangen ist. Dort habe er weitere Mitglieder seines Teams getroffen, unter anderem seinen Mannschaftskapitän, den er bewundere und der bei einem Trinkspiel mitmacht. Alle trinken, Turner trinkt auch. Irgendwo zwischen den Zeilen dieser banalen Nacherzählung der Ereignisse steht:

"If I could go back and change what unfolded on the night of January 17th, I would do it in a heartbeat because I never meant to hurt anyone."

Turner bedauert, was sich "zugetragen" hat

"Ich hatte niemals die Absicht, jemandem weh zu tun", steht da also. Was da nicht explizit steht: "Das, was ich getan habe, hat jemandem weh getan." Stattdessen steht da: Das, was sich in der Tatnacht "zugetragen" hat, habe jemandem weh getan. Es sind Formulierungen wie diese, die das Opfer bereits in der eigenen Erklärung scharf kritisiert hat: Turner übernehme keine Verantwortung für das, was er getan hat. "Ist Alkohol ein Faktor?", fragt sie. "Ja, aber es war nicht der Alkohol, der mich ausgezogen, gefingert und mich mit dem Kopf über den Boden geschleift hat - fast komplett nackt."

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Turner beschreibt weiter, wie der Alkohol und das Vorbild anderer, die ja ebenfalls alle Alkohol getrunken hätten, dazu geführt hätten, was in jener Nacht passierte: Er trinkt, flirtet, tanzt, küsst (ein anderes Mädchen), trinkt weiter und küsst schließlich das Mädchen, das wenig später hinter dem Müllcontainer gefunden werden sollte - mit Turner auf ihrem entblößten Körper. Er habe gefragt, ob sie auf sein Zimmer gehen wolle. Sie habe ja gesagt. Also seien sie gegangen.

Wie sie auf dem Boden gelandet sind? Er weiß es nicht

In der Erklärung des Opfers heißt es dazu, Turner hätte seine Aussage diesbezüglich geändert, nachdem er erfahren habe, dass die junge Frau sich an nichts erinnern könne. Dem Polizisten, der ihn in der Tatnacht vernommen habe, habe er gesagt, er hätte nicht vorgehabt, mit der jungen Frau auf sein Zimmer zu gehen. Er könne sie nicht einmal aus einer Reihe von Frauen identifizieren. Wie sie auf dem Boden hinter dem Müllcontainer gelandet sind, kann Turner auch zum Abschluss des Prozesses nicht erklären:

"The next thing I realize is that we were both on the ground laying next to each other because it seemed as though she lost her footing heading down the slope and I went down with her."

Auf dem Weg zu seinem Zimmer, so steht es in der Erklärung, hätten beide plötzlich nebeneinander auf dem Boden gelegen. Was dann passierte, geht in Turners Version so: Sie scherzen, lachen, küssen sich. Er fragt sie, ob er mit seinen Fingern in sie eindringen und sie berühren darf. Sie antwortet "yeah". Er tut, was sie ihm vermeintlich erlaubt hat, fragt sogar noch nach, ob es ihr gefalle. Sie gibt ihm eine "positive Reaktion". Er beginnt, seine Hüfte an ihrer zu reiben. Zu keiner Zeit habe er feststellen können, dass die junge Frau bewusstlos ist. Schließlich wird ihm, vom vielen aus Gruppenzwang konsumierten Alkohol, schlecht. Er beginnt sich aufzurichten.

Da bemerkt er zwei Männer, die sich ihm nähern. Er hört ein "what the fuck", einer der beiden Männer packt ihn am Arm. Turner reißt sich los, schreibt er, aus Angst, die nichts mit Schuldbewusstsein zu tun gehabt habe. Er fürchtet angeblich, die Männer wollen ihn in eine Schlägerei oder Ähnliches verwickeln. Die beiden, wie sich später herausstellt, sind sie Schweden, rufen die Polizei. Turner muss die Nacht in einer Zelle verbringen. Als ihm der Polizist sagt, ihm werde Vergewaltigung vorgeworfen, sei er in einen Schockzustand gefallen. Seine Aussagen aus dieser Nacht, impliziert er, seien deshalb nicht detailliert genug gewesen: "Ich dachte nicht, dass die Dinge, die ich nicht erwähnte, einen so großen Einfluss haben würden. Ich wusste ja, dass ich in dieser Nacht niemanden vergewaltigt habe - und dass das alles sein würde, was zählt."

Das Opfer erinnert sich an nichts. Einer der beiden Schweden erinnert sich so: Von Weitem sehen er und sein Begleiter, wie ein Mann und eine Frau hinter einer Mülltonne auf dem Boden liegen. "Wir sahen, dass sie sich nicht bewegte, während er sich sehr stark bewegte." Die Situation kommt ihnen seltsam vor. Sie halten ihre Räder an und gehen auf das Paar zu. "Was zum Teufel machst du da?", fragen sie. Nach einem kurzen Wortwechsel habe der Mann, Turner, die Flucht ergriffen. Sie können ihn aber fassen und rufen die Polizei.

Er will aufklären über die Gefahren von Alkohol und Gruppenzwang

Auf die Schilderung des Geschehens folgt eine dreiseitige Erklärung, inwieweit die Vorfälle jener Nacht sein Leben nachhaltig verändert haben: Turner könne nicht mehr schwimmen, studieren, habe zwei Jobs verloren. Sein Vater hatte in einem umstrittenen Appell an den Richter geschrieben, "20 minutes of action" hätten 20 Jahre Arbeit zunichte gemacht. Auch Turner schreibt, er sei nicht länger das Produkt der Arbeit, die er seit 19 Jahren in sein Leben investiert habe.

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Dann folgt endlich ein bisschen Reue. "Ich werde mir niemals dafür vergeben können, dass ich (der Name des Opfers ist geschwärzt) Trauma und Schmerz zugefügt habe", heißt es. Schuld sei aber nicht er gewesen, sondern der Alkohol. Turner wünsche, geht es wenige Sätze später weiter, er hätte an diesem Abend niemals einen Tropfen getrunken.

Schließlich erklärt Turner, er wünsche, er wäre niemals ein guter Schwimmer gewesen, damit niemand im Zusammenhang mit diesem Fall darüber berichten könne. Kaum zwei Absätze später nutzt er seinen Sport als Argument für seine Zielstrebigkeit und den darauf aufbauenden Appell, er könne während einer Bewährungsstrafe anderen viel besser helfen als im Gefängnis.

Wie er das tun will? Man müsse die Gefahren von Gruppenzwang und dem Drang, dazugehören zu wollen, erkennen. Turner wolle darüber aufklären, was die Trinkkultur an amerikanischen Universitäten mit einem machen kann. Was der 20-Jährige offensichtlich vergisst: Keiner seiner Schwimmkollegen stand wegen Missbrauchsvorwürfen nach dieser Party vor Gericht.

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