Prozess in Berlin:Ist Ohrlochstechen bei Kindern Körperverletzung?

Ein kleines Mädchen hatte sich die Löcher in den Ohrläppchen so sehr gewünscht, doch das Stechen soll sie "traumatisiert" haben. Die Eltern klagten auf Schmerzensgeld - und könnten bald selbst vor Gericht stehen. Wegen Körperverletzung.

Das kleine Mädchen soll geweint haben, als ihr in einem Berliner Tattoo-Studio Ohrlöcher gestochen wurden. Noch drei Tage später soll die Dreijährige bei einem Arztbesuch traumatisch reagiert haben. So steht es in der Schmerzensgeldklage des Kindes, das von seinen Eltern vertreten wird. Mindestens 70 Euro wollen sie heute vor Gericht von der Chefin des Studios erstreiten. Doch der Fall hat längst auch eine andere Dimension erreicht: Das Ohrlochstechen soll auf einen Straftatbestand hin geprüft werden.

Es geht darum, ob sich die Eltern, die Studio-Inhaberin oder alle zusammen strafbar gemacht haben könnten. Der Richter am Amtsgericht Berlin-Lichtenberg habe wohl das Kölner Urteil zu religiös motivierten Beschneidungen im Kopf gehabt, als er ankündigte, die Strafbarkeit zu prüfen, sagt Gerichtssprecher Ulrich Wimmer. Ob damit Neuland betreten wird? Er habe noch nie von einem solchen Fall vor Gericht gehört, sagt der Sprecher, der für alle Amtsgerichte in der Hauptstadt zuständig ist.

Das Landgericht in Köln hatte im Juni die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen als "rechtswidrige Körperverletzung" gewertet, die grundsätzlich strafbar sei. Das einzelne Urteil hatte weltweit für Aufsehen gesorgt und bei Medizinern und Eltern Verunsicherung ausgelöst. Jetzt denkt die Bundesregierung über Neuregelungen nach, die Rechtssicherheit schaffen sollen.

Der Amtsrichter in Berlin-Lichtenberg ließ im Fall des Ohrlochstechens verlauten, es sei zweifelhaft, ob die Einwilligung der Eltern dem Wohl des Kindes gedient habe. Zudem sei zu klären, warum das Tattoo-Studio es nicht ablehnte, bei einem derart jungen Kind Ohrlöcher zu stechen. Die Eltern hatten ihrer Tochter das Ohrlochstechen zum Geburtstag geschenkt - sie habe sich das so gewünscht.

Friedrich-Wilhelm von Hesler, Facharzt für plastische und ästhetische Chirurgie sieht die Löcher in den Ohrläppchen bei kleinen Kindern sehr kritisch: "Jeder Angriff auf die körperliche Integrität ist eine Körperverletzung - auch das Ohrlochstechen", findet der in Hannover und Berlin praktizierende Arzt. "Das Kind kann nicht einwilligen und die Eltern dürfen nicht in alles einwilligen." Kinder ab 14 Jahren sollten selbst entscheiden - aber ausdrücklich nur mit Einwilligung der Eltern. Ohrlöcher bei kleinen Kindern seien nicht notwendig, sagt von Hesler. "Die Ohrringe sind doch eher Schmuck für die Eltern." Er habe schon erlebt, dass die Wunden nicht gut heilten. "Wenn das Ohrläppchen abfault, ist man fürs ganze Leben entstellt."

Was aus einer eigentlich unspektakulären Schmerzensgeldklage am Berliner Amtsgericht wird, ist noch nicht absehbar. "Alles ist möglich", sagt Sprecher Wimmer. So ist es möglich, aber noch nicht sicher, dass der Fall an die Staatsanwaltschaft übergeben wird.

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