Prozess gegen Marco W.:Marco, das Politikum

Seit 192 Tagen sitzt der deutsche Schüler in Haft, damit beweist die türkische Justiz ihre Inkompetenz.

Stefan Kornelius

Im Fall Marco hat es bisher an Sensibilität wahrlich nicht gemangelt. Sensibel ist die Bundesregierung, die das Verfahren gegen den minderjährigen Schüler als Angelegenheit der türkischen Justiz behandelt und entsprechend mit Kommentaren geizt.

Marco; Prozess; Türkei; Kommentar; ddp

Marco muss weiter in Untersuchungshaft bleiben.

(Foto: Foto: ddp)

Sensibel sind die Eltern des Jungen, die öffentlich kaum wahrzunehmen sind und hierzulande einen ganz anderen Pressewirbel erzeugen könnten. Sensibel sind auch die deutschen Medien, die das emotionale Potential des Falles nicht ausbeuten und stattdessen das türkische Rechtssystem zu erklären versuchen.

All diese Sensibilität scheint einem Ziel zu dienen: Die Politik und die Emotionalität des Falles sind vom Recht zu trennen. Der türkischen Justiz soll nicht der Vorwand geliefert werden, sie stehe unter Druck. Das Biest darf nicht gereizt werden, es könnte sonst wütend werden.

Nach 192 Tagen Untersuchungshaft ist diese Rücksichtnahme nicht mehr geboten. Es ist die türkische Justiz selbst, die den Fall in dieser langen Zeit zum Politikum gemacht hat und jede Chance verspielt, ein als gerecht empfundenes Ende des Dramas herbeizuführen. Es ist das Gericht in Antalya, und es sind die ihm vorgesetzten Instanzen, die einen Mangel an Sensibilität erkennen lassen, eine Sturheit und offenbar eine Wurstigkeit gegenüber der gar nicht mehr zu leugnenden Symbolkraft des Falles.

Nach 192 Tagen Untersuchungshaft beschränkt sich das Gericht darauf, auf die Nichtöffentlichkeit des Verfahrens zu pochen. Das genügt zwar dem Jugendstrafrecht, entspricht aber schon lange nicht mehr dem öffentlichen Interesse an dem Fall. Ohne Details des Verfahrens preisgeben zu müssen, könnte das Gericht zum Beispiel zur Verschleppung der Angelegenheit Stellung nehmen.

Es könnte die Beweisaufnahme beschleunigen, es könnte Übersetzer verpflichten, einen Zeitplan veröffentlichen, es könnte die offenkundige Verzögerungstaktik der britischen Kläger rügen. Aber das Gericht tut Marco an, was offenbar Hunderte Gerichte in der Türkei Hunderten Untersuchungshäftlingen antun: Es ignoriert das dringende Bedürfnis vor allem jugendlicher Täter - oder auch Opfer - nach einer schnellen Klärung.

Die Unverhältnismäßigkeit zeigt sich am deutlichsten beim Haftgrund Fluchtgefahr: Wohin, bitte sehr, soll Marco flüchten? Er ist ein Gefangener der Öffentlichkeit. Sollte es zu einer Verurteilung kommen, wird er sich der Justiz nicht entziehen können.

Wenn die Anwälte des Schülers nun ankündigen, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen, dann versuchen sie, ihre juristischen Bedürfnisse mit der politischen Dimension des Falles in Einklang zu bringen. Allerdings sollte man sich hüten, die Politisierung des Falles ihnen vorzuwerfen. Es ist die schreiende Inkompetenz eines Justizsystems, die offenkundig willkürliche und unverhältnismäßige Haftverlängerung Monat um Monat, die den Fall zum Politikum haben werden lassen.

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