Prozess gegen Marcel H.:Mein Bruder, der Täter

Die Schwester des Doppelmörders Marcel H. sagt aus - und beschreibt ihn mit drastischen Worten. Sie möchte "mit dem Jungen, der hier sitzt" nichts mehr zu tun haben.

Von Christian Wernicke, Bochum

Sie spricht hastig. So schnell, dass Richter Stefan Culemann die 22-jährige Zeugin sanft ermahnen muss, sich zu bremsen: "Wir verstehen Sie sonst nicht." Sandy H. will sich von der Seele reden, was seit dem Abend des 6. März dieses Jahres auf ihr lastet. Am Abend jenes Tages hat ihr Bruder Marcel den neunjährigen Nachbarsjungen Jaden ermordet, keine 24 Stunden später tötete Marcel H. seinen Bekannten Christopher W., bei dem er sich nach der ersten Tat versteckt hatte. "Wir waren Geschwister", sagt Sandy H. mit lauter Stimme und schaut zu ihrem Bruder: "Ich möchte ehrlich nichts mit dem Jungen, der da sitzt, zu tun haben."

Als enge Angehörige hätte Sandy H. die Aussage verweigern können. Aber sie stellt sich dem Gericht, den hundert Zuhörern im Saal, dem Presserummel. Und sie sieht Michaela W. und Jeanette R. in die Augen, den Müttern der beiden Mordopfer, die keine zwei Meter entfernt sitzen. "Vor allem für Jeanette bin ich hier", wird Sandy H. nach ihrer über einstündigen Aussage erklären. Das schulde sie der früheren Nachbarin. Jaden habe sie früher Nachhilfe gegeben. "Ich mochte den Kleinen", sagt sie unter Tränen, "aus dem hätte was werden können."

Ihren Bruder beschreibt Sandy H. als gestörten, gefühlskalten, letztlich einsamen Menschen. "Er hatte so eine Gleichgültigkeit", sagt sie nachdenklich. Nur, das konnte schnell umschlagen in Arroganz, in Wut, in Gewalt. Als die Mutter vor Jahren Marcel bat, er möge sein schmutziges Geschirr aus dem Zimmer nach unten bringen, habe ihr Bruder die Teller einfach aus dem Fenster geworfen. "Jetzt sind die Teller ja unten, hat er gesagt", erzählt H., "und meine Mutter hat die dann weggeräumt." Einmal, im Sommer 2016, habe sich Marcel ignoriert gefühlt - und ihr dann aus Ärger ein blaues Auge geschlagen. "Wenn meine Freunde zu Besuch kamen, hab' ich sie gewarnt: 'Geht da nicht rein, lasst ihn in Ruhe.' Er war so schnell zu reizen."

"Aber das, was er dann getan hat, konnte sich niemand vorstellen."

Schon mit sieben oder acht Jahren, so erinnert sich Sandy H., sei der Bruder erstmals in Therapie gekommen: "Da ist er in der ersten Klasse mit einer Schere auf die Lehrerin losgegangen." Später habe Marcel H. mit einem Messer seinen älteren Bruder attackiert, "das steckte dann in der Tür". Und zuletzt, so bezeugt die Schwester, sei der heute 19-Jährige wegen ADHS in Behandlung gewesen, wegen Aufmerksamkeits-Defiziten und Hyperaktivität-Störungen: "Aber das, was er dann getan hat, konnte sich niemand vorstellen." Mit 52 Messerstichen tötete er den Nachbarssohn, auf seinen Bekannten habe er mindestens 68 Mal eingestochen. Der neunjährige Jaden, so erklärte am Donnerstag eine rechtsmedizinische Gutachterin, habe sich noch kurz gewehrt, ehe er an einem Messerstich in die Schläfe gestorben sei. Christopher W. musste sehr viel länger leiden. Er verblutete nach "vielen Minuten" des Todeskampfs.

Einmal noch hat Sandy H. ihren Bruder nach dessen Bluttaten getroffen. Sie fuhr nach Wuppertal, besuchte Marcel H. im Untersuchungsgefängnis. Sie wollte wissen, ob er bereue. "Da hat er mir mit unglaublicher Gleichgültigkeit gesagt: 'Nein!'" Stattdessen, so berichtet Sandy H., habe ihr Bruder geprahlt, dass er nun "ein 4chan" sei. 4chan, so heißt die Webseite, auf der Bekannte von Marcel H. dessen WhatsApp-Mitteilungen nach den Morden weltweit verbreiteten. Und wo anonyme Gaffer den Mörder anfeuerten. Ein 4chan zu sein, das fand er toll: "Ich habe ihn noch nie so stolz gesehen." Schon im ersten Verhör noch in der Mordnacht des 6. März hatte sie bei der Polizei zu Protokoll gegeben: "Die Person, die mein kleiner Bruder gewesen ist, ist gestorben."

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