Prozess um Brechmittel-Einsatz:Szenen wie im Folterkeller

Brechmittel und lauwarmes Wasser bis zum Tod: Der Prozess um einen gestorbenen mutmaßlichen Dealer in Bremen wird neu aufgerollt. Der Bundesgerichtshof stellt fest, dass ein Polizeiarzt gegen die Menschenwürde verstoßen hat.

H. Holzhaider, Bremen

Die Szene, die der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs beschreibt, erinnert an Schilderungen, wie man sie aus den Folterkellern einer Militärdiktatur kennt: Polizisten fesseln einem dunkelhäutigen Mann die Füße mit Kabelbindern und die Hände auf dem Rücken mit Handschellen. Sie setzen ihn auf einen schräg nach hinten gestellten Untersuchungsstuhl. Ein Arzt legt Messgeräte zur Überwachung von Sauerstoffsättigung im Blut, Blutdruck und Puls an, dann schiebt er dem Gefesselten einen 70 Zentimeter langen Schlauch durch die Nase bis in den Magen. Der Mann versucht das durch Kopfbewegungen zu verhindern, ein Polizeibeamter presst seinen Kopf gegen die Rückenlehne.

Brechmittel-Prozess wird neu verhandelt

Der angeklagte Arzt Igor V. (l.) soll 2004 einem mutmaßlichen Drogendealer Brechsirup und Wasser über eine Magensonde verabreicht haben, bis der Mann starb.

(Foto: dpa)

Dann flößt der Arzt dem Wehrlosen mittels einer Spritze Ipecacuanha-Sirup ein, das Mittel löst starken Brechreiz aus. Danach pumpt er sieben bis acht Spritzenfüllungen lauwarmes Wasser in den Schlauch. Der Mann kämpft vergeblich gegen das Erbrechen an, er beißt die Zähne zusammen, er versucht, das Erbrochene wieder zu verschlucken. Trotzdem tritt ein haselnussgroßes Kügelchen Kokain aus - vermutlich durch eine Zahnlücke. Der Arzt füllt immer mehr Wasser nach. Schließlich wird der Mann apathisch, sein Widerstand erlahmt, aus Mund und Nase tritt weißer Schaum aus, das Sauerstoffmessgerät zeigt keinen Wert mehr an. Der Arzt weiß sich nicht mehr zu helfen, er lässt einen Notarzt alarmieren. Es stellt sich heraus, dass das Sauerstoffmessgerät nicht mehr funktionierte, weil die Hände des gefesselten Mannes zu kalt waren. Das beruhigt den Arzt. Er erklärt dem Notarzt, dass der Mann wahrscheinlich nur vortäusche, bewusstlos zu sein; "Schwarzafrikaner" würden sich bei einer solchen Prozedur häufig "tot stellen". Er bittet den Notarzt, noch dazubleiben, er müsse noch eine weitere "Magenspülung" vornehmen.

Der Afrikaner zeigt jetzt wieder Reaktionen, er gibt unverständliche Laute von sich. Der Arzt lässt weiter lauwarmes Wasser durch den Schlauch in den Magen des Mannes laufen. Der erbricht sich wieder. Ein zweites Kügelchen Kokain wird sichergestellt. Es reicht immer noch nicht. Noch mehr Wasser. Noch mehr Erbrechen. Ein drittes Kügelchen. Jetzt verfällt der Mann wieder in Lethargie. Der Brechreiz nimmt merklich ab. Der Arzt nimmt einen Holzspatel und manipuliert im Rachen des Gefesselten, um weiteres Erbrechen zu provozieren. Dann fällt der Mann ins Koma. Zwölf Tage später stirbt der 35-jährige Laya Alama Condé aus Sierra Leone, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben, im katholischen St.-Josephs-Krankenhaus in Bremen.

Die Szene, die der Bundesgerichtshof so plastisch beschrieben hat, spielte nicht in einer argentinischen Polizeikaserne während der Herrschaft der Militärjunta, sondern kurz nach Weihnachten im Jahr 2004 im Arztraum im Keller des Polizeipräsidiums im Bremer Stadtteil Vahr.

Seit Dienstag steht der Arzt Igor V., 46, unter dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung vor dem Landgericht Bremen. V., der seine medizinische Ausbildung in Kasachstan erhielt, ist der Arzt, der Laya Condé so lange mit Brechmittel und Wasser traktierte, bis dieser ins Koma fiel. Es ist der zweite Anlauf der Justiz, den Tod des Afrikaners strafrechtlich zu ahnden. In einer ersten Verhandlung war Igor V. im Dezember 2008 freigesprochen worden. Die Richter hatten damals zur Begründung erklärt, V. habe zwar objektiv seine ärztlichen Pflichten verletzt, subjektiv sei ihm aber keine Schuld nachzuweisen, weil er "mangels klinischer Ausbildung und Erfahrung mit derartigen Einsätzen" überfordert gewesen sei. Der tödliche Verlauf sei dadurch schwer vorhersagbar gewesen, weil die kritische Situation sich "schleichend entwickelt" habe und eine "nicht bekannte Herzvorschädigung" bestanden habe.

Verzicht auf das forcierte Erbrechen

Das angeblich vorgeschädigtes Herz eines Delinquenten hatte schon 2001 in Hamburg einen Polizeiarzt vor der Strafverfolgung geschützt, nachdem auch dort ein Afrikaner nach dem zwangsweisen Einsatz von Brechmitteln gestorben war. Man wusste also durchaus um die Gefährlichkeit dieser Maßnahme. Trotzdem wurde die brutale Methode in den Hansestädten Bremen und Hamburg weiter praktiziert, um mutmaßliche Drogendealer zu überführen. Andere Bundesländer waren von jeher zurückhaltender - "in Bayern wurde so was noch nie gemacht", sagt ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums, das in Polizeiangelegenheiten ansonsten keineswegs zimperlich ist.

In Bremen drängten die Grünen nach dem Tod von Laya Condé den Koalitionspartner SPD dazu, auf das forcierte Erbrechen zu verzichten. Die Hamburger Justizbehörde fand sich dazu erst bereit, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Ermittlungsmethode 2006 als "inhumane und erniedrigende Behandlung" und einen Verstoß gegen die Menschenwürde geächtet hatte.

Das war auch für den Bundesgerichtshof im April 2001 ein wesentlicher Grund, den Bremer Freispruch aufzuheben. Zwar sei die "erzwungene Exkorporation" (so der euphemistische Fachjargon) 2004 in Bremen noch rechtlich abgedeckt gewesen, stellt der BGH fest, aber spätestens nach der "erfolgreichen Bergung des ersten Kokainkügelchens" habe ein Verstoß des Angeklagten gegen das Gebot der Wahrung der Menschenwürde "auf der Hand gelegen". Die "Fortsetzung der Exkorporation" - also das weitere Vollpumpen des nahezu bewusstlosen Opfers mit Wasser - sei offensichtlich unverhältnismäßig gewesen. "Die Verantwortung dieser Umstände lag allein beim Angeklagten", heißt es in der Entscheidung.

Seine angebliche Unerfahrenheit schützt den kasachischen Arzt nach Ansicht des BGH nicht vor Strafe. Igor V. sei - durch seine Approbation nachgewiesen - ein ausgebildeter Arzt. Seine Schutzpflicht für die Unversehrtheit des Patienten sei auch durch die "von Dritten zu verantwortende Überforderung" nicht beseitigt worden. Das zielt auf Professor Michael Birkholz, den Chef der Bremer Gerichtsmedizin. Er ist gleichzeitig Leiter des "Ärztlichen Beweissicherungsdienstes", bei dem V. damals angestellt war. Gegen Birkholz wurde jedoch nie ein Ermittlungsverfahren geführt; er selbst weist den Vorwurf, er habe einen unqualifizierten Arzt auf die Menschen losgelassen, entschieden von sich.

Igor V. lehnte es am ersten Prozesstag ab, sich zur Anklage zu äußern. Das Landgericht Bremen hat vorerst 18 Verhandlungstage angesetzt.

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