Prozess gegen Anders Breivik:Zehn Minuten für jeden Mord

Schicksal um Schicksal: Im Prozess gegen Anders Breivik rekonstruieren Ermittler, Mediziner und Anwälte minutiös den Tod aller 69 Menschen, die der Rechtsextreme auf Utøya tötete. Für die Angehörigen ist es eine schwere Prüfung. Nur Breivik verfolgt die Bilanz seines Mordens ohne Regung.

Gunnar Herrmann

Bano Abobakar Rashid war nur 18 Jahre alt, als sie auf Utøya ihrem Mörder begegnete. Kurz zuvor hatte sie noch mit ihrem großen Vorbild Gro Harlem Brundtland über Außenpolitik diskutiert. Auf Fotos sieht man sie freudestrahlend neben der ehemaligen Ministerpräsidentin stehen.

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Rosen vor der Insel Utøya erinnern an die 69 Menschen, die Anders Breivik im vergangenen Juli dort kaltblütig erschoss.

(Foto: dpa)

Brundtland trug Rashids olivgrüne Gummistiefel - das Wetter war schlecht, die Jugendliche hatte der Politikerin mit passendem Schuhwerk ausgeholfen. Wie gerne wäre sie später in Brundtlands Fußstapfen getreten, hatte sie Freunden erzählt. Doch dann fielen die Schüsse. Rashid rannte um ihr Leben und auf dem "Kjaerlighetsstien", dem "Liebespfad", endete die Flucht.

Im Gerichtssaal in Oslo rekonstruieren Experten die letzten Momente in Rashids Leben. Es ist eine Prozedur, die sich derzeit täglich etwa zwölf Mal wiederholt. Sechs Verhandlungstage sind für die 69 Morde auf der Insel reserviert, jeder einzelne soll genau beschrieben werden.

Etwa zehn Minuten dauert das pro Mord. Rashid ist das zehnte Opfer, dessen Tod behandelt wird. Der Ablauf ist stets gleich: Die Ermittler zeigen Fotos vom Tatort. In Rashids Fall der Trampelpfad, der sich an der Westseite der Insel entlangschlängelt, eingezwängt zwischen einer steilen Böschung und Klippen, die metertief in den See abfallen.

Es folgt der Auftritt des Rechtsmediziners. Seit Tagen steht in der Mitte des Gerichtssaals, nur wenige Meter vor der Anklagebank, eine lebensgroße Filzpuppe, an der die Ärzte den Obduktionsbericht erläutern. Mit einem Zeigestab deutet der Fachmann auf die Einschussstellen. Rashid wurde von zwei Kugeln im Kopf getroffen. Sie starb unmittelbar an den Verletzungen.

Die Bilanz einer Wahnsinnstat

Die Obduktionsberichte sind für die Angehörigen der Ermordeten eine schreckliche Prüfung. Viele sind den Medienberichten zufolge trotzdem in den Gerichtssaal gekommen, in dem es bemerkenswert still ist, wie die Reporter beschreiben. Nur leises Schluchzen ist immer wieder zu hören, ab und zu verlassen Zuschauer den Raum. Selbst Richter, Staatsanwälte und Journalisten haben in diesen Tagen manchmal Tränen in den Augen. Nur der Angeklagte Anders Behring Breivik verfolgt die Bilanz seiner Wahnsinnstat ohne eine Regung.

Nach jedem Obduktionsbericht bekommen die Nebenklägeranwälte kurz das Wort. Sie dürfen ein paar Sätze über das Leben des Ermordeten sagen. Mette Yvonne Larsens Stimme zittert, als sie erzählt, wie Bano Rashid im Alter von sieben Jahren mit ihren Eltern aus Irak floh. "Sie spielte Handball und Fußball", berichtet die Anwältin.

Am 29. Juli wurde Rashid in ihrer Heimatgemeinde Nesodden beerdigt, als erstes der insgesamt 77 Terroropfer von Oslo und Utøya. Die Beisetzung war damals live im Fernsehen zu sehen. Auf Wunsch der Eltern hielten ein Pfarrer und ein Imam den Gottesdienst gemeinsam. "So wurde gezeigt, dass verschiedene Kulturen in Frieden zusammen leben können", sagt Larsen und endet: "Sie wird von ihrer Familie sehr vermisst." Kurz darauf stehen die Morde an Andreas Edvardsen, 18, und Silje Stamneshagen, 18, auf der Tagesordnung.

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