Prozess-Ende in Pretoria:Neun Fragen zum Urteil gegen Oscar Pistorius

Thokozile Masipa

Richterin Thokozile Masipa hat den Prozess sehr zurückhaltend geführt.

(Foto: AP)

Nationale Ikone, Sportler - Mörder? Donnerstag entscheidet sich in Pretoria das Schicksal von Oscar Pistorius. Welche Strafe droht ihm? Wie kommt das Gericht zu seinem Urteil?

Von Lena Jakat

Der Krimi hatte 41 Folgen. Viele in Südafrika verfolgten jede Szene, jeden Auftritt, jede überraschende Wende. Am Donnerstag findet der Mordprozess gegen den berühmten Athleten Oscar Pistorius sein Finale, Richterin Thokozile Masipa wird im Gerichtssaal des Gauteng High Court in Pretoria ihr Urteil verkünden. Welche Strafe droht ihm für die Tötung seiner Freundin Reeva Steenkamp? Wie geht es nach dem Urteil für ihn weiter? Fragen und Antworten.

Worum geht es?

Bis zum 13. Februar 2013 war Oscar Pistorius eines der großen Idole Südafrikas. Dem Läufer fehlen seit seinem ersten Lebensjahr beide Unterschenkel. Dank Training, Ehrgeiz und jenen Carbon-Prothesen, denen er seinen Spitznamen "Blade Runner" verdankt, kämpfte er sich bis in die regulären Wettbewerbe der Olympischen Spiele in London 2012. Im 400-Meter-Rennen schaffte er es bis ins Halbfinale, bei der Abschlusszeremonie trug er die südafrikanische Flagge. Sein Land jubelte ihm zu. Dann, in der Nacht zum Valentinstag 2013, erschießt der 26-Jährige seine Freundin Reeva Steenkamp. Er feuert vier Schüsse durch die geschlossene Toilettentür seines Hauses. Die Kugeln verletzen Steenkamp tödlich. Im August 2013 wird Oscar Pistorius wegen Mordes angeklagt, seit dem 3. März steht er in Pretoria vor Gericht. (Lesen Sie hier eine Chronologie der Ereignisse).

Wie argumentiert die Verteidigung?

Pistorius und seinen Anwälten zufolge war es ein tragischer Unfall. Der Angeklagte sagt, er habe Steenkamp für einen Einbrecher gehalten und sie irrtümlich in Notwehr erschossen. Zwei Argumentationslinien sind dabei zentral: Die tiefsitzende Furcht des Angeklagten vor Gewalt und Verbrechen, die bisweilen so nah an Paranoia reiche, dass im Prozess zwischenzeitlich die Frage nach seiner Zurechnungsfähigkeit im Raum stand. Und die Schutzlosigkeit, die er aufgrund seiner Behinderung in besonderem Maße empfinde. Außerdem haben die Ermittler am Tatort nach Überzeugung der Verteidigung schlampig gearbeitet. Damit erklären Pistorius' Anwälte um Barry Roux auch Unstimmigkeiten in ihrer Version der Tatnacht (Lesen Sie hier, wie der Angeklagte selbst die entscheidenden Momente schilderte).

Wie argumentiert die Anklage?

Die Staatsanwaltschaft hält die Geschichte mit dem Einbrecher für wenig überzeugend; Pistorius habe Steenkamp vielmehr im Streit erschossen. Chefankläger Gerrie Nel versuchte, anhand etlicher Details aufzuzeigen, warum Pistorius' Version der Tat unglaubwürdig ist. Zu Beginn des Prozesses setzte Nel noch darauf, Pistorius als cholerischen Liebhaber und schießwütigen Waffennarr zu entlarven. Weil die Beweise jedoch kaum reichen dürften, um dem Angeklagten Streit und Motiv nachzuweisen, ruderte Staatsanwalt Nel in seinem Plädoyer zurück und beschränkte sich auf die Forderung, Pistorius wegen Mordes zu verurteilen.

Wer entscheidet über Pistorius' Schicksal?

Thokozile Masipa fällt als einzige Richterin das Urteil in dem Prozess vor dem Gauteng High Court in Pretoria. Die 66-Jährige hat den Prozess äußerst besonnen geführt. Nur wenig ist über die Frau in der leuchtend roten Robe bekannt, die einst als zweite schwarze Frau überhaupt in Südafrika zur Richterin ernannt wurde. Sie arbeitete vor ihrer Juristenkarriere als Polizeireporterin und hat später einige harte Strafen für Gewaltverbrechen gegen Frauen verhängt. Manche Beobachter haben daraus einen möglichen Nachteil für Pistorius abgeleitet. Weggefährten von Reeva Steenkamp, die sich für Frauenrechte engagierte, hatten Masipas Berufung deswegen begrüßt. Ihr Verhalten an all den Verhandlungstagen hinterlässt den Eindruck einer sachlichen, sehr zurückgenommenen Person (Lesen Sie hier ein ausführliches Porträt im britischen Observer). Wenn sie sich - was nur selten der Fall war - ruhig und bedacht zu Wort meldete, horchten die Menschen im Gerichtssaal auf. In ihrer Entscheidung wird Masipa von zwei Assessoren unterstützt.

Wer sind diese Assessoren?

"Assessoren sind oft zu sehen, aber nie zu hören", heißt es auf der Website des Nachrichtensenders eNCA treffend. Janette Henzen-Du Toit und Themba Mazibuko saßen während des gesamten Prozesses neben Richterin Masipa, machten sich Notizen - und sprachen kein Wort. Bei komplexen Verfahren vor dem High Court kann der Richter zwei sogenannte Assessoren ernennen. "Sie haben stets einen juristischen Hintergrund, zum Beispiel sind das oft pensionierte Richter", sagt William Booth, Strafverteidiger und Vorsitzender des Strafrecht-Komitees der Law Society of South Africa. Sie sollen dem Richter bei der Urteilsfindung helfen. Auch über Mazibuko, der einen akademischen Hintergrund hat, und die Anwältin Henzen Du-Toit ist nur wenig bekannt.

"Der Einfluss der Assessoren ist begrenzt", sagt Booth zu Süddeutsche.de. Zwar könnten Henzen Du-Toit und Mazibuko Masipa in einzelnen Sachfragen theoretisch sogar überstimmen, wenn es um die Bewertung von Fakten geht - zum Beispiel um die Frage, ob dieser oder jener Zeuge glaubhaft ist. Aber zum einen komme es nur in sehr wenigen Fällen zu einem solchen Konflikt, wie Booth erläutert: "Die drei beraten sich und kommen in der Regel zu einer einvernehmlichen Entscheidung." Und zum anderen bleibt die Entscheidung auf Basis des Gesetzes allein dem Richter überlassen, ebenso wie die Festlegung des Strafmaßes.

Warum gibt es in Südafrika keine Jurys?

Widersprüchliche Einflüsse der konkurrierenden Kolonialmächte Großbritannien und Niederlande fanden auch Eingang ins südafrikanische Rechtssystem. So entstanden zwar im 19. Jahrhundert Geschworenengerichte, sie konnten sich jedoch nicht durchsetzen. Immer häufiger fanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts Prozesse ohne Jury statt, bis die Geschworenengerichte während des Apartheid-Regimes 1969 gänzlich abgeschafft und seither nicht wieder eingeführt wurden. (Lesen Sie hier in einem Bericht des Magazins Business Insider, wie genau es dazu kam.) Auch jetzt urteilt in den Magistrates' Courts - der niedrigsten Instanz des Rechtssystems - und in den 14 High Courts des Landes - der nächsthöheren Instanz - in der Regel jeweils ein Richter. (Das Portal für Südafrikas Öffentlichkeitsarbeit informiert hier ausführlich über das Rechtssystem des Landes)

Wie könnte das Urteil ausfallen?

Hat Oscar Pistorius seine Freundin umgebracht oder glaubte er, ein Einbrecher sei im Haus? Diese Frage muss sich Richterin Masipa als Erstes stellen.

  • Glaubt sie Pistorius, muss sie entscheiden ...

[] ... ob er im gesetzlichen Rahmen von Notwehr handelte und damit freizusprechen ist. Oder ...

[] ... ob er zu verurteilen ist - wegen fahrlässiger Tötung oder sogar wegen Totschlags, weil er damit rechnen musste, die Person hinter der Tür zu töten - oder das sogar beabsichtigte.

  • Glaubt Masipa Pistorius nicht, muss sie entscheiden, ...

[] ... ob er Steenkamp vorsätzlich tötete und demnach des Mordes schuldig zu sprechen ist. Oder ...

[] ... ob er spontan handelte, also "Totschlag" vorliegt.

Wie lange muss Pistorius ins Gefängnis?

Je nachdem, zu welchen Entschlüssen Masipa kommt, variiert das Strafmaß. Ein Freispruch ist möglich, aber auch bis zu lebenslänglich für Mord - in der Regel 25 Jahre. Totschlag wird in Südafrika mit einer Mindeststrafe von 15 Jahren geahndet. Bei fahrlässiger Tötung ist das Strafmaß allein dem Gericht überlassen. Unter Umständen könnte er in diesem Fall auch mit einer Bewährungsstrafe davonkommen.

Kann der Athlet in Berufung gehen?

Wenn Pistorius mit dem Ausgang des Verfahrens nicht zufrieden ist, kann er in Revision gehen. "Das Gericht entscheidet dann darüber, ob die Sache noch einmal vor dem High Court oder vor dem Supreme Court of Appeal verhandelt wird", erläutert Jurist William Booth. In der Regel gehe ein Verfahren zunächst zur "full bench" des High Court - zur vollen Richterbank, wo in zweiter Instanz drei Richter über den Fall verhandeln. Danach stehe Pistorius immer noch der Weg zum Supreme Court of Appeal offen - dem höchsten Berufungsgericht des Landes. Die Entscheidungen der Folgeinstanzen stützen sich auf das Material aus diesem ersten Prozess, es gibt keine neue Beweisaufnahme. Und schließlich bleibt den Anwälten des Athleten sogar noch der Gang vor das Verfassungsgericht, falls sie zu dem Schluss kommen, dass in den Verfahren die Verfassung verletzt wurde.

Die Staatsanwaltschaft ist in ihren Möglichkeiten beschränkter. "Sie kann in die nächste Instanz gehen, wenn sie das Strafmaß für zu gering hält", erläutert Booth. "Oder, wenn sie zur Überzeugung gelangt, dass die Richterin ein Gesetz falsch ausgelegt hat." Das Gesetz zur Notwehr zum Beispiel - das in diesem Prozess eine zentrale Rolle spielt.

Am Donnerstag um 9.30 Uhr will Masipa ihr Urteil verkünden.

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