Popstars unter Beschuss:Die neuen Leiden des jungen B.

Justin Bieber

Das Bild des glamourösen Tour-Lebens gerät immer mehr ins Wanken: Auf vielen Künstlern lastet ein immenser Druck.

(Foto: dpa)

Früher gab es Ruhm, Konzerte und ewige Jugend - heute warten Öffentlichkeitshölle, Tourstress und Druck: Warum "Popstar sein" kein Traumberuf mehr ist. Am Beispiel von Justin Bieber.

Von Martin Wittmann

Früher wäre dieser 19 Jahre alte Justin Bieber um seinen Status zu beneiden gewesen, sogar unabhängig davon, mit welcher Musik er sich diesen ergaunert hat. Mehr als 15 Millionen Alben hat er verkauft, er war für mehrere Grammys nominiert und ist laut Forbes der "drittmächtigste Star der Welt".

Ein Film über ihn hat mehr als 100 Millionen Dollar eingespielt, pro Jahr verdient der Kanadier mehr als 50 Millionen Dollar. Als geföhntes Kind einst nur von anderen geföhnten Kindern umschwärmt, sieht er auf neuen Fotos mit seinem Sixpack auch noch objektiv blendend, ja fast objektivblendend gut aus.

In einer längst vergangenen Zeit hätte solch ein junger Star sich mit Groupies vergnügt, hätte körperliche und geistige Versehrtheit einem gefährlich-geilen Hedonismus geopfert, hätte launisch und arrogant sein dürfen, hätte Geld und Hotelfernseher zum Fenster rausgeschmissen, hätte willkürlich die Regeln im Umgang mit Presse und Publikum bestimmen können.

Und doch wäre er geliebt und respektiert worden, solange sich nur Angebot und Nachfrage die Waage hielten. Nicht, weil die Normalbürger diesen Lebensstil für den richtigen ansahen. Sondern weil sich hier jemand mit Talent die Freiheit verdient hat, den falschen zu wählen.

Leistungsdruck den Fans gegenüber

So hoffte, wer früher von einer Karriere als Superstar träumte, auf Ruhm, Konzerte in aller Welt und die Verantwortungslosigkeit der ewig Jungen. Heute leidet, wer es tatsächlich geschafft hat, unter Öffentlichkeitshölle, Tourstress und Druck.

In den Schlagzeilen liest sich das noch junge Popjahr 2013 so: "Lady Gaga sagt Konzerte wegen Verletzung ab". Sie hatte einen Riss im Hüftgelenk erlitten, eine show injury - eine Verletzung, die sie sich auf der Bühne zugezogen und danach pflichtbewusst so lange verschwiegen hat, bis sie vorübergehend im Rollstuhl landete. Oder: "Rihanna sagt schon wieder Konzert wegen Kehlkopfentzündung ab". Sie hasse es, Menschen zu enttäuschen, die sie nie hängen gelassen hätten, schrieb sie auf Twitter, und fügte demütig hinzu, als wäre die Verletzung ein verrutschter BH: "Das ist mir so peinlich."

Oder, um bei dem jungen Kanadier zu bleiben: "Neue Panne für Justin Bieber: Medizinische Hilfe bei Konzert". Oder: "Justin Bieber verärgert Publikum in London mit großer Verspätung" Oder: "Justin Bieber wehrt sich: ,Ich bin ein guter Mensch'". Wer will tauschen mit jemandem, der sich zu so einer Gegendarstellung genötigt fühlt?

Die Nachfrage scheint heute eine andere zu sein als früher, sie ist gieriger und unverschämter. Wer sie bedienen will, muss kuschen und malochen, sich fügen und zusammenreißen, eigene Verantwortung und fremde Vorstellungen übernehmen, schmerzfrei und vernünftig, fleißig und pünktlich sein. Kurz: den Albtraum eines jeden freigeistigen Jugendlichen leben.

Dem Shitstorm schutzlos ausgeliefert

Ein arges Problem heutiger Popstars: das Internet. Zum einen lässt das Netz mit seinen Kopiermöglichkeiten die CD-Verkäufe schrumpfen, zum anderen dient es zunehmend als moralfreier Raum, in dem sich die Menschen auskotzen und gegenseitig anpissen, wo Shitstorms aufziehen und jeder seine Hirnfürze hinausblasen kann. Das Internet als Scheißhaus.

Liest man sich dort ein in die Hasstiraden, die Bieber gelten, will man zu dessen anstehender Deutschland-Tour unbedingt einen Entwarnhinweis geben: Entgegen der weit verbreiteten Meinung wird am Donnerstag in der Münchner Olympiahalle kein Kriegsverbrecher vorgeführt, sondern ein ziemlich unschuldiger junger Musiker erwartet.

Früher gab es Kritik am Boulevard, weil er Kriminelle zuweilen wie Popstars feierte. Heute behandelt er Popstars wie Kriminelle. Nicht der alte Boulevard, der aus ein paar endlichen Blättern besteht, die der Auflage wegen Radau machen. Sondern der neue Boulevard: kommentarlastige und millionenfach angeklickte Internetseiten wie tmz.com und perezhilton.com. Hier ist der Umgang miteinander nicht bloß vergiftet, das Gift ist hier die Währung.

Die heute ziemlich in Vergessenheit geratene Schauspielerin Tiffani-Amber Thiessen sagte kürzlich, wie froh sie über ihre Karriere in den 90ern sei - mit Betonung auf den 90ern. "Gott sei Dank habe ich das verpasst", sagte sie in Bezug auf TMZ und ähnliche Läster-Portale.

Auf TMZ steht etwa "Justin Bieber has just become hateable" , der Sänger habe es sich also (mit einem harmlosen Tweet) soeben verdient, gehasst zu werden. Mehr als 500 Menschen haben dem Befund dieses neuen Leitmediums zugestimmt, und zwar nicht nur mit dem simplen Drücken eines "Like"-Knopfes, sondern mit eigenem Kommentar.

Vom Popstar zum Mob-Star

Zu den kürzlich begangenen angeblichen Sünden des Sängers gehört es übrigens, dass er an seinem 19. Geburtstag ohne T-Shirt auf der Straße gesichtet wurde. Wäre es früher verwunderlich gewesen, wenn ein Rockstar nach seiner Geburtstagsfeier noch seine Unterhose angehabt hätte, wird die Oben-ohne-Geschichte im Netz erzählt, als hätte Bieber nun endgültig einen Pakt mit Luzifer geschlossen.

Früher sei das Leben der Stars entspannter gewesen, sagt Marcel Avram, der Impresario, der die deutschen Konzerte Biebers betreut. Er kann die allgemeine Aufregung über den Oben-ohne-Auftritt nicht verstehen. "Heute gilt überall: Big Brother is watching you."

Der neue Ton ist stilbildend nicht nur für Berichterstattung und Rezeption, sondern auch für die Recherche. Ein Fotograf in London, dem Bieber wohl zu gesittet und damit nicht fotogen genug erschien, beschimpfte den Sänger grundlos aufs übelste, woraufhin der ihm Schläge androhte. In einer gerechten Welt wäre das erste eine Sauerei, die mit Berufsverbot geahndet werden sollte, das zweite eine Reaktion, die nicht schicklich, aber doch nachvollziehbar wäre. Auch für Avram war das Verhalten des Musikers ein positives Zeichen, das zeigte, "dass er noch am Leben ist, dass er noch nicht halb tot ist".

Tatsächlich aber wurde der Vorfall auf den meisten Internetportalen als Indiz für den Niedergang des Teenie-Schwarms gewertet, der sich in der Bild rechtfertigen musste: "Wenn dir Leute den ganzen Tag ihre Kamera mitten ins Gesicht drücken, dir miese Dinge ins Gesicht schreien. . . Ich bin auch nur ein Mensch. Ich bin weit weg von zu Hause, vermisse meine Familie, meine Geschwister, Freunde." Ein Hilferuf. Geholfen hat es freilich wenig, die User sind im Internet über ihn hergefallen. Popgeschichte als Mobgeschichte.

Früher durften sich die Talentierten danebenbenehmen, weil sie so groß, so einzigartig, so bekannt waren. Heute sind es die Normalbürger, die unanständig sein können, weil sie so klein sind und untergehen in der anonymen Masse.

Burnout statt Überdosis

Gleichzeitig mit dem Hass der Nicht-Fans auf den Star steigt der Anspruch seiner Anhänger an ihn. Schuld daran ist dessen Dauerkommunikation mit den Followern auf Twitter, die zumindest der amerikanische Markt - einen anderen echten Superstar-Markt gibt es ohnehin nicht - inzwischen einfordert. Bieber hat mehr als 35 Millionen Follower, genauso Lady Gaga, und Rihanna hat immerhin noch 29 Millionen. Durch diese ständige Scheinpräsenz der Celebritys und ihr enges Kontakthalten mit dem Volk geht hier eine Distanz zwischen zwei Institutionen flöten, für die diese Distanz eigentlich konstitutiv ist: hier der Unerreichbare, und dort, weit, weit weg, die Bewunderer.

Ein Beispiel für die Zeitenwende: Ein 15-jähriges Mädchen schreibt auf Twitter, dass sie zwar kein Fan von Justin Bieber sei, dessen Akustik-Album aber ganz gut finde. Der Sänger veröffentlichte diese Meldung. Nun regen sich die echten Fans, die sich nicht genügend gewürdigt fühlen, in einer Brachialität auf, die mit den Wirren der Pubertät nicht erklärt werden kann. "Du retweetest das und weißt noch nicht einmal, dass ich existiere", schreibt ein Enttäuschter im Internet. Enttäuscht aber kann nur werden, wer etwas erwartet, und es ist die behauptete neue Volksnähe, die zu diesen Erwartungen führt. Den Stars gehört die Welt? Die Stars gehören der Welt.

Das alles wäre alles nur banal und halb so schlimm, wenn Popstars wie früher alle zwei Jahre eine Platte aufnehmen und sich dazwischen der gediegenen Ausschweifung hingeben könnten. Aber das geht nicht mehr, weil sie nicht mehr genug Geld mit ihren Alben verdienen. So ist unter den Künstlern ein Wettbewerb um die neue Haupteinnahmequelle entbrannt: Konzerte. Die werden immer pompöser, um irgendwie den hohen Eintrittspreis zu rechtfertigen.

Den Tourzirkus am Laufen halten

Laut Branchendienst Pollstar hat Lady Gaga vor ihrer Verletzung in zehn Monaten 85 Shows absolviert und mehr als 168 Millionen Dollar eingenommen. 130 Menschen beschäftigte sie dafür. Selbst wenn die Versicherung in solchen Fällen bereitsteht - wie groß muss der Druck sein, zumal für einen Solokünstler, diesen Riesenzirkus am Laufen zu halten, auch wenn man selbst nicht mehr laufen kann? Der Chef des verantwortlichen Konzertunternehmens "Live Nation" sagte dann auch, die Tourabsage sei der Moment gewesen, in dem "die glamouröse Vorstellung davon, wie das Leben auf Tour ist, ersetzt wird von der Realität: es ist hart".

Wo früher die Angst vor der Überdosis war, droht heute der Burn-out. Nicht nur wegen des Terminstresses der Superstars - Lady Gaga muss neben den Reisen, den Konzerten und dem Twittern ja noch Fernsehauftritte, Videodrehs, Werbeveranstaltungen, Galas und Preisverleihungen stemmen. Sondern auch wegen der physischen Höchstleistungen, mit denen sich die Stars zu übertreffen suchen. Madonna hat vor Jahren damit angefangen, Konzerte zu athletischen, artistischen Spektakeln zu machen. Nun sollen Musiker perfekte Musikmaschinen sein, fitte, disziplinierte, erwachsene Spießer, deren geturntes Wurlitzer-Portfolio zu gefallen hat.

So unterscheiden sich Konzertmitschnitte von Sängerinnen wie Beyoncé, Pink oder eben Lady Gaga kaum mehr von Fitnessvideos - wenn die Künstler sich nicht gerade überanstrengt haben und sich wie Justin Bieber und Lady Gaga auf der Bühne übergeben wie ausgelaugte Marathonläufer (beide haben ihre Auftritte danach selbstverständlich fortgesetzt). Reiste früher immer ein Dealer mit, ist heute der Personal Trainer dabei. Und wenn eine Sängerin mal zwei Pfund mehr auf den Rippchen hat oder am Tag nach der Entbindung nicht gleich wieder die Vor-Schwangerschafts-Jeans anhat? Richtig, dann geht die große Internetsause los.

Man muss sicher kein Mitleid haben mit den Superstars. Aber man will sie auch nicht mehr beneiden. Denn irgendwo hört der Spaß auf.

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