Popmädchen aus der Provinz:Privat bin ich Mensch

Begegnung bei "Beckmann": Das deutsche "Fräuleinwunder" des Pop trifft auf Sir Ritchie.

Den seltsamsten Satz des Abends sprach ein kulleräugiges Mädchen mit kilometerlangen Haaren: halb Bambi, halb Rapunzel. Annett Louisan also saß am Montag bei Beckmann, wie begraben unter der tonnenschweren Last ihrer Blondheit, spitzte den rot angemalten Schmollmund und sprach: "Wenn ich privat bin, möchte ich schon auch Mensch sein."

Anett Louisan wird als neues Fräuleinwunder gehandelt

Ein ganz normaler Mensch? Popsängerin Annett Louisan.

(Foto: Foto: AP)

Dann verriet Louisan noch, dass sie, obwohl sie derart bekannt und berühmt und erfolgreich ist, weiterhin U-Bahn fährt. Wenigstens ab und zu.

Das klingt zunächst bescheiden, wirft aber bei näherem Überlegen Fragen auf. Hat Annett Louisan, dieses von Marketing-Strategen geschickt positionierte Lolita-Produkt, dieses Chanson-Luder für mittelalte Plattenkäufer mit Sugardaddy-Fantasien, diese Fleisch gewordene Telefonsexwerbung, überhaupt ein Privatleben? Ist sie ein Mensch?

Und: Warum muss sie permanent betonen, wie normal sie geblieben ist?

Alle drei Vertreterinnen des so genannten "neuen deutschen Fräuleinwunders" mühten sich nach Kräften, den Eindruck zu erwecken, sie seien hübsch auf dem Teppich geblieben. Bloß kein Größenwahn, bloß keine Exzentrik! Dabei sind Größenwahn und Exzentrik zentrale Bestandteile von Pop, was sich nur in Deutschland offenbar noch nicht herumgesprochen hat.

Popmädchen aus der Provinz

Stefanie Kloß von Silbermond erzählte, dass sie Sängerin geworden sei, weil ihr Querflöte-Lernen zu anstrengend war, und die Juli-Sängerin Eva Briegel betonte, dass es an ihrer Schule bei Gießen schon einen mittleren Skandal gab, wenn jemand auf dem Klo beim Rauchen erwischt wurde. "Klar, wir kommen aus der Provinz", verkündete Frau Briegel, "aber die meisten Deutschen ja auch. Die Provinz steht hinter uns!"

Und so saßen sie da, die drei Provinz-Popmädchen: Louisan aus Havelberg, Kloß aus Bautzen und die Gießenerin Briegel. Und sie redeten. Und redeten. Und die Zeit wollte nicht vergehen, weil niemand irgendwas Interessantes zu erzählen hatte. Ach, würde Annett Louisan wenigstens Stretch-Limo fahren statt U-Bahn. Das wäre mal was!

Fehlende Weizsäcker-Coolness

ARD-Gastgeber Reinhold Beckmann nannte die Mädchen trotzdem andauernd "Stars" und "Berühmtheiten", was er wahrscheinlich irgendwo in einem Artikel über das "Deutschpop-Wunder" gelesen hat. Er sagte so lange "Stars" und "Berühmtheiten" und "Wunder", bis er selbst daran glaubte.

Noch jemand saß mit am Tisch, der von all dem unbeeindruckt blieb. Ein älterer Herr von bald 85 Jahren, höflich, zurückhaltend. Richard von Weizsäcker hatte sich, bevor die Pop-Heldinnen hereinplatzten, eine Dreiviertelstunde lang sehr gut mit Beckmann unterhalten. Über Politik und Sport und Schach und Musik. Über alles. Fast alles.

Indiskrete Fragen hatte er auf distinguierte Weise abgewehrt, mit mildem Lächeln. Kurz: Die mit Abstand lässigste Person des Abends war Richard von Weizsäcker. "Sir Ritchie" ist übrigens auch sehr bescheiden - aber dabei wenigstens cool.

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