Polizisten vor Gericht:Hilflos verblutet

In Kiel stehen zwei Polizisten vor Gericht, die am Tod eines betrunkenen Schülers schuld sein sollen: Als sie den 18-Jährigen orientierungslos auf einer Landstraße zurückließen, wurde er überfahren.

Hans Leyendecker

Ewa S. und ihr Mann Pawel M. haben lebenslang. Ihr Sohn, der Gymnasiast Robert S., ist am 1. Dezember 2002 gegen 5.33 Uhr morgens bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Er hockte, dünn bekleidet und barfuß, mitten auf der Fahrbahn und wurde überfahren.

Polizisten vor Gericht: Auf der Kronsforder Hauptstraße bei Lübeck wurde der volltrunkene Schüler Robert S. überfahren - Polizisten hatten ihn dort zurückgelassen.

Auf der Kronsforder Hauptstraße bei Lübeck wurde der volltrunkene Schüler Robert S. überfahren - Polizisten hatten ihn dort zurückgelassen.

(Foto: Foto: Lutz Roeßler)

Der 18-jährige Schüler hatte 1,99 Promille Alkohol im Blut. Kurz zuvor hatte ihn eine Polizeistreife auf einer Landstraße in die Kälte jener Dezembernacht entlassen. Seine Eltern werden vermutlich bis zur ihrem Tod im Schatten dieses Verlustes leben.

Die beiden Beamten, der Polizeihauptmeister Hans Joachim G., Jahrgang 1949, und der Polizeioberkommissar Alexander M., Jahrgang 1961, die von Mittwoch an als Angeklagte vor der Schwurgerichtskammer des Kieler Landgerichts stehen, müssen zumindest damit leben, den Tod des Jungen verursacht zu haben. G. hat zwei erwachsene Kinder, M. hat sechs Kinder im Alter zwischen fünf und 24 Jahren. Einer seiner Söhne wird in diesen Tagen 17 Jahre alt.

Der Kampf der Eltern

Die Eltern des toten Jungen waren nicht gelähmt von dem Unglück, das über sie gekommen war, sondern erstritten mit Hilfe des Bad Schwartauer Anwalts Klaus Nentwig den Prozess gegen die beiden Beamten. Es war ein jahrelanger Kampf. Die Staatsanwaltschaft Lübeck hat, unterstützt von der Generalstaatsanwaltschaft Schleswig, das Verfahren zweimal eingestellt.

Schließlich ordnete dann im März 2006 das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht die Anklage in einem Klageerzwingungsverfahren an. Diverse Strafverfolgungsbehörden und verschiedene Gerichte haben den Fall über all die Jahre höchst unterschiedlich bewertet.

"Ungünstige örtliche Atmosphäre"

In erster Instanz wurden die Polizisten im Mai 2007 vom Lübecker Landgericht wegen fahrlässiger Tötung zu Bewährungsstrafen von jeweils neun Monaten verurteilt. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat Anfang dieses Jahres das Urteil aufgehoben.

Der 18-Jährige habe sich nach Verlassen des Streifenwagens in einer "hilflosen Lage" befunden, urteilte der BGH. Die Beamten hätten "bedingt vorsätzlich" gehandelt. Das Landgericht habe den Fall zu milde und rechtlich fehlerhaft behandelt. Die Nebenklage hatte gefordert, die Beamten wegen Aussetzung mit Todesfolge zu verurteilen.

Dass der Fall nicht in Lübeck, sondern in Kiel neu aufgerollt wird, ist nicht so ungewöhnlich. Das Verfahren müsse "aus der ihm ungünstigen örtlichen Atmosphäre herausgenommen werden", hatte der Hamburger Anwalt Johann Schwenn im Auftrag der Eltern gefordert.

Falls die Beamten, die von der Kieler Anwältin Annette Marberth-Kubicki und ihrem Mann, Wolfgang Kubicki, verteidigt werden, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr verurteilt werden sollten, müssten sie aus dem Polizeidienst entlassen werden. Sie wären ruiniert. Auch über ihre Familien ist das Unglück gekommen. Sie leiden mit den Angeklagten.

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Hilflos verblutet

Die übliche Formel von der "Verkettung unglücklicher Umstände" umschreibt die Geschehnisse der letzten Nacht des Robert S. nur unzureichend. Gegen 2.45 Uhr hatte der Junge eine Landdiskothek in Groß Weeden, einem Weiler etwa zwanzig Kilometer von Lübeck entfernt, verlassen.

Er hatte mit Freunden gefeiert. Gegen drei Uhr wurde er hundert Meter von der Diskothek entfernt am Straßenrand in bewusstlosem Zustand von einer Zivilstreife gefunden. Die Beamten hüllten ihn in eine Wärmedecke und riefen einen Rettungswagen.

Kurzzeitige Besinnung im Rettungswagen

Der Junge kam zu sich, konnte Fragen beantworten. Der sei nicht volltrunken, mutmaßten die Zivilbeamten. So sahen es auch die herbeigeeilten Rettungssanitäter. Sie gaben später an, sie hätten den Jungen eigentlich ins Krankenhaus bringen wollen. Der aber habe abgelehnt. Sie informierten die Polizei und fuhren gegen 3.40 Uhr ohne den Jungen weg.

Gegen 3.44 Uhr wurde Robert S. auf seinem Handy von einer Bekannten angerufen. Das Gespräch dauerte 49 Sekunden. Ihr fiel nichts Besonderes an ihm auf. Kurz danach ein weiterer Anruf. Er habe keinen Schlüssel und werde von zwei komischen Typen nach Hause gefahren, soll er einer anderen Zeugin gesagt haben. Wen oder was er meinte, blieb unklar.

Etwa um diese Zeit ging bei einer Einsatzleitstelle der Notruf 110 ein. Das Ehepaar B., das mit fünf Kindern in Groß Weeden lebt, teilte den Beamten mit, ein junger Mann lärme und wolle ins Haus. Seine Eltern hätten das Haus vor anderthalb Stunden gekauft, habe er gesagt - offenbar war das Unfug.

Einsatz der Polizei wegen Lärmbelästigung

Polizeihauptmeister G. und Polizeioberkommissar M., die in der Polizeistation Berkenthin Nachtdienst hatten, fuhren mit ihrem Passat zum Einsatzort. Als sie ankamen, stand der Junge vor dem Haus und telefonierte. Er hatte gerade selbst den Notruf 110 angerufen und einem Beamten in der Leitstelle mitgeteilt, er wolle in das Haus und werde nicht reingelassen.

Es gehöre seinen Eltern: "Das steht im Grundbuch, das kommt zu Ihnen nach Hause", sagte er zu den beiden Polizisten. Der Beamte M. fragte, ob der Junge wisse, wer sie seien: "Polizei", antwortete der Junge. "Ich bin der Präsident der Vereinigten Staaten", witzelte M. und deutete auf G.: "Das ist Micky Maus." S. soll gelacht haben. Drei Bier habe er getrunken, sagte er.

Die Beamten verwiesen ihn vom Grundstück, fuhren weg und kamen dann zurück, um noch einmal nach dem Rechten zu schauen. Auch Robert S. hatte umgedreht. Er ging aufs Haus zu und stolperte über eine Kette. "Jetzt ist Schluss, Freundchen, du kommst jetzt mit und kannst dich ausnüchtern", soll M. gesagt haben. S. saß im Wagen hinten, schnallte sich selbst an, reichte freiwillig seinen Ausweis rüber, nannte korrekt seinen Wohnort und beschäftigte sich mit seinem Handy. Ein paarmal wählte er im Polizeiauto die Polizei-Notrufnummer 110, ohne zu sprechen.

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Hilflos verblutet

Die Beamten überlegten. Schließlich wollten sie den Jungen doch nicht mit auf die Wache nehmen. Zweimal soll er sie aufgefordert haben, ihn aussteigen zu lassen. Sie verbrachten ihn auf Lübecker Gebiet und setzten ihn in Höhe eines Sportlerheims aus.

Zehn Kilometer waren sie mit ihm gefahren. Für Lübeck waren sie nicht zuständig. Entgegen der Dienstanweisungen hätten sie ihre Einsatzstelle "nicht, beziehungsweise nicht vollständig" über die Abläufe unterrichtet, urteilte der BGH. Es sei "nicht ersichtlich", aus welchen Gründen sie sich "der konkreten Gefährdung und der Gesundheit des Heranwachsenden nicht bewusst gewesen" seien. Robert S. sei nicht nur betrunken gewesen, sondern "örtlich sowie situativ desorientiert".

Betrunken und ohne Orientierung

Orientierungslos stolperte S. durch die Nacht. Er zog Schuhe und Strümpfe aus, versuchte zu Hause anzurufen, verwählte sich aber. Er schickte Mitteilungen, in denen nichts stand. Keine Menschenseele konnte er erreichen.

Auf der Kronsforder Hauptstraße bei Kilometer 10,6 wurde er kurz darauf von einer jungen Frau, die zu schnell mit ihrem Golf unterwegs war, überfahren und war sofort tot. Als Todesursache stellte ein Rechtsmediziner einen "Verblutungstod infolge von Polytrauma in Kombination mit einem Ersticken bei Blutaspiration" fest.

Die Polizeibeamten G. und M. argumentierten in erster Instanz, sie hätten einen Volljährigen, der aussteigen wollte, nicht gegen seinen Willen festhalten können. Wenn die Polizisten Pech haben, wird daraus Freiheitsberaubung. Dass Robert S. volltrunken war, hätten sie angeblich nicht bemerkt.

"Ein schöner Brausebrand"

Er habe einen "schönen Brausebrand" gehabt, sagte einer der Beamten. Warum haben sie kein Taxi gerufen? Sie seien davon ausgegangen, dass er sich selbst ein Taxi rufe. In der Gegend seien normalerweise viele Taxis unterwegs.

Die Staatsanwaltschaft hat in ihrer Revisionsbegründung darüber spekuliert, ob Robert S. sich das Leben habe nehmen wollen. Die junge Frau, die ihn totfuhr, ist im Frühjahr vergangenen Jahres bei einem Autounfall ums Leben gekommen. "Unverschuldet" - so steht es in den Gerichtsakten.

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