Plädoyers im Mordprozess gegen Oscar Pistorius:"Seine Absicht war, einen Menschen zu töten"

Oscar Pistorius Is Tried For The Murder Of His Girlfriend Reeva Steenkamp

Staatsanwalt Gerrie Nel will Oscar Pistorius wegen Mordes verurteilt sehen.

(Foto: Getty Images)

Wusste Oscar Pistorius, dass es seine Freundin war, auf die er durch eine geschlossene Tür feuerte? Egal, sagt Staatsanwalt Gerrie Nel in seinem Plädoyer vor Gericht im südafrikanischen Pretoria. So oder so habe er absichtlich gehandelt - und damit gemordet.

Von Lena Jakat

  • Die Staatsanwaltschaft plädiert im Prozess gegen Oscar Pistorius auf Mord - ob an Reeva Steenkamp oder einem mutmaßlichen Eindringling, wird im Verlauf der Argumentation zweitrangig.
  • Staatsanwalt Nel nimmt in seinem Schlusswort die Glaubwürdigkeit des Angeklagten und die Strategie von dessen Anwälten auseinander.
  • Pistorius' Verteidiger Barry Roux geht entschieden gegen Nels Argumentation an.
  • Der südafrikanische Sportler beteuert, seine Freundin versehentlich erschossen zu haben, weil er sie für einen Einbrecher hielt.
  • Spricht ihn das Gericht der absichtlichen Tötung Reeva Steenkamps schuldig, drohen Pistorius bis zu 25 Jahre Haft.

Staatsanwalt plädiert auf Mord: Pistorius wollte töten

Die Staatsanwaltschaft um Gerrie Nel will Pistorius des Mordes überführen. Nach Überzeugung der Anklage hat der beidseitig beinamputierte Sportler seine Freundin Reeva Steenkamp im Streit erschossen. Im Verlauf von Nels Schlusswort wird deutlich, dass die Anklage nicht unbedingt eine Verurteilung wegen Mordes an Reeva Steenkamp anstrebt. Sondern wegen Mordes der Person im Bad - gleichgültig, wen Pistorius dort vermutet haben mag. Nel macht deutlich: Selbst falls das Gericht Pistorius Glauben schenkt, liege keine Affekttat vor, sondern Mord. "Seine Absicht war, einen Menschen zu töten", sagt Nel am Ende seines Plädoyers.

Die Tat: Steenkamp starb durch vier Schüsse

In der Nacht zum Valentinstag 2013 starb das südafrikanische Model Reeva Steenkamp durch vier Schüsse. Abgegeben wurden sie durch die verschlossene Toilettentür eines Badezimmers im ersten Stock des Hauses von Oscar Pistorius. Die Villa liegt im bewachten Wohnkomplex Silver Woods nahe der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria. Der Paralympics-Sportler, für viele Menschen in Südafrika zu diesem Zeitpunkt eine einheitsstiftendes Idol, hatte die Schüsse aus einer Neunmillimeter-Pistole abgegeben.

Roux adressiert "inhaltliche Fehler" der Staatsanwaltschaft

Ob und welche "inhaltliche Fehler" Nel in seinen Ausführungen gemacht hat, ist freilich Ansichtssache - genauso, wie die Variante der Staatsanwaltschaft eben eine Variante ist und nicht zwangsläufig die Wahrheit. Und so nutzt Pistorius' Verteidiger Barry Roux die Gelegenheit, um seinerseits anhand vieler Details Nels Argumentation auseinanderzunehmen. Er spricht aggressiv, emotional, er wirkt, als habe er sich alle Energie für diese Minuten aufgespart. Für Roux ist die halbe Stunde, die er an diesem Nachmittag Zeit hat, ein Aufwärmtraining für sein eigenes Plädoyer am Freitag. Er nutzt die Gelegenheit um klarzumachen: Am Freitag wede er dem Gericht darlegen, warum die Variante der Anklage keinen Sinn macht.

Waren Steenkamp und Pistorius ein glückliches Paar?

Im Verlauf seiner Argumentation kommt Nel auf die Kurznachrichten zu sprechen, die sich Pistorius und seine Freundin schickten. Die meisten klingen glücklich, liebevoll. Doch eine inzwischen berühmte Whatsapp-Nachricht, die Steenkamp drei Wochen vor ihrem Tod an Pistorius schickte, beginnt mit den Worten: "Manchmal habe ich Angst vor dir". In ihrer ersten inhaltlichen Wortmeldung an diesem Donnerstag unterbricht Richterin Masipa den Staatsanwalt und stellt die Aussagekraft der Nachrichten in Frage: "Sind nicht alle Beziehungen dynamisch? Geht es nicht immer auf und ab?" Nel akzeptiert den Einwand, sagt aber: "Das war kein normales Paar", denn: "diese Beziehung endete mit dem Tod."

Argumentation der Anklage: Mosaik der Unwahrheiten

Staatsanwalt Nel bemüht zu Beginn und Ende seiner Ausführungen eine Metapher aus der Leichtathletik: Der Angeklagte habe die Unwahrheit gesagt, den "Staffelstab der Wahrheit" fallen lassen. "Ohne den Staffelstab der Wahrheit kann man das Rennen nicht zu Ende bringen", sagt Nel. Sein Plädoyer stützt er auf verschiedene Argumente:

  • Ungenauigkeiten in Pistorius' Aussage Die entscheidende Frage in diesem Prozess lautet: Hat der Angeklagte vorsätzlich geschossen? Eine Frage, die Pistorius selbst nie schlüssig beantwortete, wie Nel nun herausstreicht. Seiner Aussage zufolge habe Pistorius "gedacht", in der Toilettenkabine befinde sich ein Einbrecher - habe er also nicht in jedem Fall vorsätzlich geschossen, also gemordet?
  • Kritik an Pistorius als Zeuge "Dem Angeklagten gelang es nicht, eine glaubwürdige oder nach den Regeln der Vernunft mögliche Version zu präsentieren", sagt Nel und nennt ihn einen "entsetzlichen" Zeugen. Pistorius habe mit seinen Aussagen im Prozess nicht bei der Wahrheitsfindung geholfen, wie es seine Pflicht als Zeuge sei, moniert der Staatsanwalt. Er habe auf Fragen nicht wahrhaftig geantwortet, sondern argumentiert, immer auf die Folgen seiner Worte bedacht. Tailoring ist das Wort, das hier immer wieder fällt, maßschneidern, zurechtbiegen, anpassen. Nel bemüht blumige Worte, spricht von einem Domino-Effekt der Lügen und Unwahrheiten in Pistorius' Aussage: "Wenn ein Stein im Mosaik bewegt wird, müssen die restlichen Teile auch bewegt werden, um das Bild intakt zu halten."
  • Pistorius' Variante unplausibel Nel redet sich in Fahrt, zählt Schlag auf Schlag die Merkwürdigkeiten an Pistorius' Variante der Tatnacht auf: Steenkamp schlüpfte aus dem Bett, ohne etwas zu ihrem Freund zu sagen? Warum nahm sie ihr Mobiltelefon mit, wenn sie doch nur zur Toilette ging? Warum sollte sie nicht auf Pistorius' Rufe geantwortet haben?
  • Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Angeklagten Nel erinnert an zwei weitere Vorfälle, die ebenfalls in dem Verfahren verhandelt wurden: Zwei Gelegenheiten, bei denen Pistorius Schüsse aus Pistolen abgab. Der Angeklagte habe in beiden Fällen seine Unschuld beteuert, obwohl dank etlicher Zeugen kein Zweifel an den Ereignissen bestehe. Wenn er in diesen Punkten nicht die Wahrheit sage, was bedeute das dann für den Hauptvorwurf?
  • Zweifel an den Gutachten der Verteidigung Nel sagt, die Ergebnisse der Geräusch-Tests, die Gutachter im Auftrag der Verteidigung durchführten, seien nicht überzeugend. Die Schusstests und die Geräuschtests mit dem Cricketschläger, mit dem der Angeklagte die Toilettentür aufbrach, seien im Freien durchgeführt worden und daher nicht aussagekräftig. Obendrein habe es keine Experten-Einschätzung zu den Schreien einer Frau gegeben, die Nachbarn gehört haben wollen und die laut Pistorius von ihm selbst stammten. Auch am Ballistiker Tom Wolmarans und Forensiker Roger Dixon lässt Nel kein gutes Haar:

Mit Nels Plädoyer beginnt die Schlussphase des Prozesses vor dem Gauteng High Court. Am Freitag wird Pistorius' Verteidiger Barry Roux das Wort ergreifen. Richterin Masipa verfolgt die Ausführungen des Staatsanwalts mit eiserner Miene. Ihr Urteil wird in einigen Wochen erwartet.

Beweise der Staatsanwaltschaft

Nel fasst die wichtigsten Beweise noch einmal zusammen, die die Version der Anklage stützen - dass der 27-Jährige seine Freundin im Streit erschoss:

  • Zeugen hörten Schreie einer Frau.
  • Der Mageninhalt der Toten widerspricht Pistorius' Aussage, das Paar sei am Abend früh und friedlich zu Bett gegangen.
  • Pistorius sagte nach den Schüssen in einem Telefonat mit Pieter Baba, einem Security-Mitarbeiter seines Wohnkomplexes, alles sei "in Ordnung".
  • Die Szenerie auf Tatort-Foto Nummer 55 widerspricht Pistorius' Variante der Tatnacht.

Auf Basis einiger Spuren und Aussagen - die Einschätzung, Steenkamp habe in den Stunden vor ihrem Tod gegessen, die Zeugenaussagen, es habe in Pistorius' Haus Licht gebrannt und Streit gegeben - versucht Nel einen alternativen Verlauf des Abends zu konstruieren. Einen Verlauf, der in einem tödlichen Streit endete. Akzeptiert Richterin Masipa einen dieser Beweise als wahr, müsse sie auch die anderen akzeptieren, argumentiert Nel; was nicht alle Prozessbeobachter unproblematisch finden:

Der Prozess: 39 Verhandlungstage, 36 Zeugen

Seit März hat sich das Gericht mit dem Mordvorwurf gegen Oscar Pistorius befasst, insgesamt 36 Zeugen von Verteidigung und Staatsanwaltschaft wurden gehört. Gutachter gaben ihre Einschätzung zum Tatablauf ab, der Angeklagte demonstrierte im Gerichtssaal, wie er sich ohne seine Prothesen fortbewegt. Die ganze Welt konnte an den Entwicklungen in Pretoria teilhaben, denn kurz vor Beginn hatte der Präsident des Gerichts in einer aufsehenerregenden Entscheidung die Live-Übertragung des Prozesses erlaubt. Mehrere südafrikanische Medienhäuser haben eigene Kanäle eingerichtet, die ausschließlich von dem Prozess berichten. Jeder Zeuge konnte allerdings ablehnen, im Video-Livestream gezeigt zu werden.

Einmal wurde der Prozess für mehrere Wochen unterbrochen, um ein erneutes psychiatrisches Gutachten einzuholen. Sieben Tage verbrachte der Sportler selbst im Zeugenstand. Während des gesamten Prozesses wirkte er labil, brach immer wieder unter Tränen zusammen, musste sich mehrmals übergeben.

Linktipps:

In welchen Punkten konnte Oscar Pistorius die Version der Staatsanwaltschaft widerlegen? Wo widersprach er sich selbst? Die strittigen Punkte im Überblick.

Der Tod seiner Freundin Reeva Steenkamp sei der Moment gewesen, der "alles veränderte": Lesen Sie hier, wie Pistorius die Ereignisse der Tatnacht beschrieb.

18 Monate sind seit den vier tödlichen Schüssen auf Reeva Steenkamp vergangen: Hier finden Sie eine Chronologie der Ereignisse.

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