Plädoyer im Prozess gegen Oscar Pistorius:"Dann muss das Gericht ihn freisprechen"

Plädoyer im Prozess gegen Oscar Pistorius: Am 11. September wird Oscar Pistorius das Urteil entgegennehmen.

Am 11. September wird Oscar Pistorius das Urteil entgegennehmen.

(Foto: AFP)

Mit einer emotionalen Kaskade rhetorischer Fragen geht das Plädoyer von Oscar Pistorius' Verteidiger zu Ende. War es für den Angeklagten in seiner Bedrohungslage rational, abzudrücken? Falls ja, müsse das Gericht ihn freisprechen.

Von Lena Jakat

  • Vor dem Gauteng High Court in Pretoria trägt Oscar Pistorius' Verteidiger Barry Roux energisch sein Plädoyer vor. Er will für seinen Mandanten einen Freispruch erwirken.
  • Roux versucht die belastenden Sorgen einiger Nachbarn ins Vage zu ziehen und jeden der 13 Widersprüche, die die Anklage in Pistorius' Aussage ausgemacht hat, zu entkräften.
  • Der beidseitig beinamputierte Sprinter Oscar Pistorius ist wegen Mordes an seiner Freundin Reeva Steenkamp angeklagt.
  • Das Urteil will Richterin Thokozile Masipa am 11. September verkünden.
Die Tat: Steenkamp starb durch vier Schüsse

In der Nacht zum Valentinstag 2013 starb das südafrikanische Model Reeva Steenkamp durch vier Schüsse. Abgegeben wurden sie durch die verschlossene Toilettentür eines Badezimmers im ersten Stock des Hauses von Oscar Pistorius. Die Villa liegt im bewachten Wohnkomplex Silver Woods nahe der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria. Der Paralympics-Sportler, für viele Menschen in Südafrika zu diesem Zeitpunkt eine einheitsstiftendes Idol, hatte die Schüsse aus einer Neunmillimeter-Pistole abgegeben.

Emotionales Finale

Am Ende, sagt Verteidiger Roux, würden in diesem Prozess einige Sekunden im Leben des Angeklagten entscheiden. Jene Sekunden, in denen er sich mit gezückter Waffe der verschlossenen Toilettentür in seinem Haus näherte. Betrachtet man Pistorius in dieser Situation als "vernünftige Person" im Sinne des Gesetzes, lässt also die tiefe Furcht außen vor, unter der der Angeklagte litt: "Wäre es für diese Person falsch, sich zu bewaffnen? Wäre es falsch, sich der Gefahr zu nähern, um sie vom Schlafzimmer fernzuhalten?" Und dann, als diese Person vor der Toilettentür stand: "Hätte er abdrücken sollen? Ja oder nein?" Mit dieser emotionalen Kaskade rhetorischer Fragen geht das ausführliche Plädoyer der Verteidigung zu Ende. Roux fordert einen Freispruch für seinen Mandanten.

Urteil am 11. September

Das letzte Wort hat Richterin Masipa. Sie bedankt sich bei beiden Prozessparteien für ihre Mithilfe und verkündet das Datum des Urteilsspruchs: 11. September 2014. Damit ist die Verhandlung geschlossen. Das Verteidigerteam, Oscar Pistorius und seine Familie, alle lächeln. Sie scheinen diesen Tag für einen erfolgreichen zu halten.

Roux zerlegt Bäckerdutzend der Anklage

13 grundlegende Widersprüche hat die Staatsanwaltschaft in Oscar Pistorius' Aussage ausgemacht. Weil eine Menge von 13 Dingen im Englischen als Bäckerdutzend bezeichnet wird (schob der Bäcker doch früher 13 Törtchen in den Ofen, sollte eines verbrennen), ist im Prozess immer wieder vom Baker's Dozen des Staates die Rede. Roux versucht diese Liste Punkt für Punkt zu widerlegen. Er kommt zu dem Schluss, dass die Widersprüche allesamt nicht haltbar seien: "Wenn das ein Bäckerdutzend ist, will ich diese Kekse nicht essen. Dann sind sie nicht gut."

Wer hörte wann was?

Roux macht sich mit nicht nachlassendem Eifer und minutiöser Argumentation daran, die Aussagen jener Nachbarn zu widerlegen, die nicht in die Tatversion der Verteidigung passen. Es geht darum, wer wann was gehört hat, in den frühen Morgenstunden des 14. Februar 2014.

Einige Nachbarn in Pistorius' hochbewachtem Wohnkomplex Silver Woods wurden wach, hörten verdächtige Geräusche. Waren die Schreie einer Frau, die sie hörten, in Wahrheit das entsetzte Aufheulen des Angeklagten? Waren es Schüsse oder die Schläge, als Pistorius die Toilettentür einschlug? Roux versucht alles, was noch am Donnerstag die Version der Staatsanwaltschaft eindeutig zu belegen schien, ins Vage zu ziehen. Können die Zeitpunkte, zu dem die Nachbarn die Geräusche hörten, korrekt sein? Der Anwalt beruft sich immer wieder auf Verbindungsdaten von Pistorius' Mobiltelefon, mit dem er nach den tödlichen Schüssen Hilfe rief.

Strategie von Verteidiger Roux

Roux, der als einer der besten Strafverteidiger des Landes gilt, folgt auf Staatsanwalt Gerrie Nel, der am Donnerstag sein Plädoyer gehalten hatte. Wie Nels Plädoyer werden auch Roux' Ausführungen wohl den ganzen Tag dauern. Es ist der voraussichtlich letzte Verhandlungstag, bevor Richterin Thokozile Masipa Ende August ihr Urteil verkündet. Sein Plädoyer trägt Roux äußerst energisch vor, bisweilen scheint er sich beinahe in Rage zu reden. Seine Strategie ist allerdings wohlüberlegt und stützt sich auf folgende Säulen:

Zur Person

  • Nagende Angst: Roux vergleicht Oscar Pistorius' Angst vor Einbrechern mit den Gefühlen, die sich in einem Menschen aufstauen, der über Jahre hinweg missbraucht wird. Er spricht vom "slow burn" der Angst, die sich langsam in die Seele brennt.
  • Liebevolle Beziehung: Sein Verteidiger betont noch einmal, dass Pistorius und Steenkamp eine glückliche, liebevolle Beziehung führten. Er zieht die überwiegend zärtlichen Kurznachrichten heran, die das Paar austauschte, die Valentinskarte, in der Steenkamp Pistorius ihre Liebe gestand, die Aussage eines Freundes.
  • Jung und verunsichert: Ja, Pistorius habe als Zeuge argumentativ geantwortet, sagt Roux - ein Zugeständnis an Staatsanwalt Nel. Das hätte der Angeklagte nicht tun sollen. Doch das Gericht müsse berücksichtigen, dass da ein verunsicherter junger Mensch saß, dem vorgeworfen wurde, seine Freundin kaltblütig erschossen zu haben.

Zu den Vorwürfen

  • Umdeutung der Beweise: Detail für Detail geht Roux durch Zeugenaussagen, die laut Staatsanwaltschaft den Mordvorwurf stützen sollen und zeigt, wie sie auch in die Variante des Angeklagten passen.
  • Schuldbekenntnis in anderem Vorfall: Vor Gericht werden auch zwei weitere Fälle verhandelt, in denen Pistorius illegal mit Waffen hantiert haben soll. In einem dieser Fälle, der sich in einem Restaurant ereignete, räumt Roux bereitwillig die Schuld seines Mandanten ein.

Affekt aus aufgestauter Angst

Die zentrale Frage dieses Prozesses lautet: Vorsatz oder Affekt? Während die Anklage auf Vorsatz und damit auf Mord plädiert, konzentriert sich Pistorius' Anwalt darauf, die Affekthandlung zu belegen - und zwar mit eben jenem schon genannten Argument: Die Angst vor Gewalt und Überfällen, so Roux habe sich über die Jahre in die Seele des behinderten Angeklagten gebrannt.

Mit den Worten des "langsamen Einbrennens" verweist Roux auf den Fall eines Missbrauchsopfers, das nach Jahren der Erniedrigung seinen Peiniger reflexhaft erschoss. Ein origineller Hakenschlag des Juristen - ist Richterin Masipa doch dafür bekannt, dass sie gegen Missbrauchstäter in der Vergangenheit äußerst harte Strafen verhängt hat. Wie bei dem Missbrauchsopfer habe sich auch bei Pistorius diese Angst, so Roux, nach und nach aufgestaut. Das habe - gepaart mit dem Instinkt des Sportlers, der wegen seiner Behinderung stark auf das Kämpferische ausgerichtet ist - Pistorius in der Tatnacht abdrücken lassen. "Bam!", ruft Barry Roux und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, so hart, dass manche im Saal zusammenzucken. "Bam!", ohne dass Pistorius wusste, wie ihm geschah.

Wahrheit und Wahrheiten

Verteidiger Roux wirkt erregt, als er Richterin Masipa auffordert, "Wahrnehmungen" gegen "objektive Fakten" abzuwägen. Doch derlei "objektive Fakten" sind äußerst rar in diesem Prozess, die meisten Aussagen und Beweise lassen sich nur durch Interpretation in die eine oder andere Version der Tatnacht einfügen. Das macht die Urteilsfindung für Richterin Masipa zu einer so großen Herausforderung und den Prozess für Beobachter so spannend. Zweifellos erwiesen ist lediglich, dass Oscar Pistorius Reeva Steenkamp in der Nacht zum 14. Februar 2013 erschossen hat. Alles andere könnte wahr sein oder auch nicht - mit variierenden Wahrscheinlichkeiten. Sich zwischen diesen Wahrscheinlichkeiten für eine Wahrheit zu entscheiden, ist Aufgabe der Richterin.

Staatsanwalt Nel plädiert auf Mord

Ankläger Nel hatte sich gut vorbereitet auf sein Plädoyer. Immer wieder bemühte er am Donnerstag wohlüberlegte Metaphern: Pistorius habe "den Staffelstab der Wahrheit" fallen lassen, in einem "Domino-Effekt" habe er Lüge um Lüge, Ausflucht um Ausflucht ersonnen, um eine stimmige Version der Tatnacht zu präsentieren und sich so in ein Gewirr aus Widersprüchen verstrickt: "Wenn ein Stein im Mosaik bewegt wird, müssen die restlichen Teile auch bewegt werden, um das Bild intakt zu halten", sagte Nel. Er will dem 27 Jahre alten Angeklagten Mord nachweisen. Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt davon, dass der Sportler seine Freundin im Streit erschoss. Weil sich dieser Streit nur schwer belegen lässt, konzentriert sich Nel auf einen generellen Mordvorwurf: Egal, ob er Steenkamp für einen Einbrecher gehalten habe oder nicht: "Seine Absicht war, einen Menschen zu töten."

Argumentation der Anklage

Die Argumentation, auf die Nel seinen Mordvorwurf stützt, besteht aus mehreren Strängen:

  • Kritik daran, wie Pistorius aussagte: Nel nennt den Angeklagten einen "entsetzlichen" Zeugen, der nicht der Wahrheitsfindung gedient, sondern immer mit Blick auf mögliche Konsequenzen geantwortet habe. Tailoring ist das Wort, das hier immer wieder fällt, maßschneidern, zurechtbiegen, anpassen.
  • Zweifel daran, was Pistorius aussagte: Nel versucht einerseits, die Aufrichtigkeit des Angeklagten an sich in Frage zu stellen und andererseits durch Aufzeigen von Lücken und Widersprüchen in dessen Aussagen dessen Variante der Tatnacht insgesamt unplausibel erscheinen zu lassen.
  • Demontage der Verteidigung: Etliche Tests und Gutachten der Gegenseite, sagt Nel, seien irreführend und nicht überzeugend.
  • Beweise für die Mord-Variante Nel kommt immer wieder auf zentrale Aussagen und Beweise zurück, die Pistorius' Geschichte unglaubwürdig beziehungsweise die Mordvariante der Staatsanwaltschaft wahrscheinlich erscheinen lassen. Da ist das Gutachten, wonach Steenkamp in den Stunden vor ihrem Tod noch etwas gegessen hatte - also nicht friedlich neben Pistorius schlief, wie dieser sagt. Da ist das Tatortfoto Nummer 55, auf dem ein Ventilator den Weg zum Balkon versperrt, den Pistorius in der Nacht betreten haben will. Da ist Pistorius' Anruf bei der Pforte seines Wohnkomplexes, in dem er sagte, alles sei in Ordnung.

Linktipps:

Er will Pistorius wegen Mordes verurteilt sehen: Lesen Sie hier, wie Staatsanwalt Gerrie Nel sein Plädoyer hielt.

In welchen Punkten konnte Oscar Pistorius die Version der Staatsanwaltschaft widerlegen? Wo widersprach er sich selbst? Die strittigen Punkte im Überblick.

Der Tod seiner Freundin Reeva Steenkamp sei der Moment gewesen, der "alles veränderte": Lesen Sie hier, wie Pistorius die Ereignisse der Tatnacht beschrieb.

18 Monate sind seit den vier tödlichen Schüssen auf Reeva Steenkamp vergangen: Hier finden Sie eine Chronologie der Ereignisse.

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