Befreite Geiseln in Peru:"Wir sind Reproduktionsmasse"

Peruvian anti-terrorist forces escort a group of people rescued from Shining Path rebels at Mazamari military base in the Amazon province of Satipo

Einige der befreiten Geiseln waren 30 Jahre lang in der Gewalt der Guerilla-Organisation, die Kinder sind in Gefangenschaft geboren.

(Foto: Mariana Bazo/Reuters)

30 Jahre lang waren einige der Geiseln in Peru in der Gewalt der Rebellengruppe "Leuchtender Pfad". Manche Frauen wollten sich nicht befreien lassen, dabei wurden sie offenbar regelmäßig vergewaltigt - ihre Kinder kennen die Welt außerhalb des Lagers nicht.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Kein Schuss wurde abgefeuert. Die 120 Kämpfer der Anti-Terror-Einheit kamen in vier Armeehubschraubern, sie hatten sich offenbar auf einen blutigen Nahkampf eingestellt. Doch ihre Gegner waren schon getürmt. Das Lager, die Zellen - alles unbewacht. Nur die Geiseln waren noch da, zehn Frauen, drei Männer und 26 Kinder. Einige von ihnen wollten sich nicht befreien lassen.

"Wir sind seit 30 Jahren hier", soll eine der Frauen zu den Soldaten gesagt haben, die sie per Helikopter in die Zivilisation eskortierten. Die Kinder, zwischen zwölf Monate und vierzehn Jahre alt, waren allesamt in Gefangenschaft geboren worden. Die Welt außerhalb des Lagers kannten sie nicht.

"Sendero Luminoso" - der Leuchtende Pfad

Die Geschichte mag nach einem frei erfundenen Horrorfilm klingen oder nach Nordkorea. Sie ereignete sich aber vergangene Woche in einer Demokratie namens Peru. Bei den 39 Menschen, die in der entlegenen Provinz Satipo zwischen Anden-Hochland und Amazonas-Dschungel aufgefunden wurden, handelte es sich um Sklaven der maoistischen Terror-Organisation "Sendero Luminoso". Das ist auch deshalb so erschreckend wie seltsam, weil es seit fast zwei Jahrzehnten heißt, der "Leuchtende Pfad" sei besiegt und weitgehend aufgelöst.

Perus einstiger Präsident Alberto Fujimori hatte schon 1992 stolz verkündet, die Guerilla-Gruppe sei "enthauptet". Damals war ihr berüchtigter Gründer Abimael Guzmán verhaftet worden. Er verbüßt eine lebenslange Haftstrafe. In den vergangen Tagen aber hat sich gezeigt: Sein Pfad leuchtet noch.

Am Wochenende stürmte das Militär ein weiteres Lager des Sendero und brachte noch einmal acht Kinder und sieben Erwachsene in Sicherheit, größtenteils Indios vom Stamm der Asháninkas. Zwei Deserteure, die vor wenigen Wochen geflüchtet waren, hatten offenbar entscheidende Hinweise zum Auffinden der Camps geliefert. Doch damit ist die Sklaverei in Peru noch nicht beendet. José Baella Malca, der Chef der Anti-Terror-Polizei Dircote, schätzt, dass sich noch mindestens 180 Kinder in der Gewalt der Senderistas befinden.

Angst vor den Rettern

Bilder, die Perus Regierung von der sogenannten Operación Reencuentro 2015 (Operation Wiedersehen) veröffentlichte, zeigen abgemagerte Gestalten in braunen, sackartigen Gewändern. In ihren Gesichtern meint man den Schrecken ablesen zu können, es war offenbar die Angst vor den Rettern. Nach Augenzeugenberichten waren vor allem die Kinder und Jugendlichen davon überzeugt, die Soldaten würden sie auf der Stelle umbringen. So muss es ihnen ein Leben lang erzählt worden sein.

Die beiden jetzt befreiten Camps standen nach Behördenangaben unter dem Kommando der Brüder Jorge und Víctor Quispe Palomino; letzterer gilt als legitimer Nachfolger von Abimael Guzmán und ist auch unter dem Namen "Genosse José" bekannt. Die Lager im Hochtal von Satipo sollen vor allem dazu gedient haben, Nachwuchsrebellen heranzuzüchten und sie bereits im Kindesalter für den bewaffneten Kampf auszubilden. Die peruanischen Zeitung La República zitierte eine der befreiten Frauen, die von den Senderisten offenbar regelmäßig vergewaltigt wurden, mit dem Satz: "Wir sind die Reproduktionsmasse."

Volkskrieg gegen die herrschende Klasse

Indoktrination und Gehirnwäsche, das gehörte neben archaischer Grausamkeit stets zu den Kernkompetenzen der Rebellen des Leuchtenden Pfads. Ihr einstiger Chefideologe Guzmán, ein Philosophieprofessor, der über Kants Theorien vom Raum promoviert hat, inszenierte sich als "das vierte Schwert der Weltrevolution" (nach Marx, Lenin und Mao). 1979 rief er den "Volkskrieg" gegen die herrschende Klasse aus. In den Achtzigern kontrollierte die wohl brutalste und rätselhafteste Guerillabewegung Lateinamerikas knapp zwei Drittel des peruanischen Territoriums.

Dem Staat fiel wenig mehr ein, als auf Folter und Mord seinerseits mit einem wahllosen Gemetzel zu reagieren. Dieser unheilvolle Kreislauf forderte zwischen 1980 und 2000 fast 70 000 Todesopfer, größtenteils einfache Bauern und Indigene, die zwischen die Fronten gerieten. So steht es im Abschlussbericht der peruanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission aus dem Jahre 2003. Von einem versöhnlichen Abschluss kann allerdings keine Rede sein.

Der Leuchtende Pfad mag es nicht mehr darauf abgesehen haben, Peru zu erobern, aber er ist weiterhin einflussreich. Die einstmals unter dem Schirm des Antikapitalismus agierende Mörderbande hat sich inzwischen auf eines der lukrativsten Geschäftsfelder überhaupt verlegt: Im Hochtal der drei Flüsse Apurímac, Ene und dem Mantaro kontrolliert sie große Teile des Kokainhandels. Die Gebrüder Quispe Palomino stehen deshalb auch auf den Fahndungslisten der USA.

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