Paris nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo":Ins Herz der Nation getroffen

"Charb, Cabu, Wolinski", steht mit schwarzem Stift auf eine Hauswand geschrieben, "gestorben im Kampf gegen Idioten". Paris wirkt am Tag nach dem Terrorakt wie gelähmt - wo gestern noch Schock und Wut waren, macht sich Trauer breit.

Von Felicitas Kock, Paris

Schulter an Schulter stehen die Menschen auf der Place de la République. Dunkel gekleidet, nur wenige haben Schirme aufgespannt gegen den Regen, der kurz vor der offiziellen Schweigeminute um 12 Uhr mittags eingesetzt hat. Der Regen wird stärker, prasselt auf Mützen, Mäntel, auf die Mariannen-Statue und die "JeSuisCharlie"-Schilder aus Pappe, die auf dem ganzen Platz verteilt liegen und nun langsam aufweichen. Die Menschen stehen regungslos, schweigen mehrere Minuten lang. Dann beginnt irgendwo einer zu klatschen, immer mehr Leute stimmen ein.

Der Applaus ist nicht wütend, nicht antreibend, es gibt keine Sprechchöre wie am Abend zuvor, als sich hier Tausende Menschen mit Kerzen und Plakaten versammelten, um ihre Stimmen zu erheben für Charlie Hebdo, die Freiheit der Presse und die Demokratie. Es ist ein nachdenklicher, respektvoller Applaus. Wo gestern noch Schock und Wut waren, scheint sich Trauer breitzumachen. Trauer über den Angriff, der die Stadt ins Mark getroffen hat; über den Verlust von zwölf Menschen, darunter die von vielen verehrten Charlie-Hebdo-Zeichner, die hier fast jeder kannte.

"Manchmal gingen sie natürlich zu weit", sagen nun die meisten, die man auf die verstorbenen Zeichner anspricht, "aber das war genau richtig so." Wenn man gegen etwas eintrete, müsse man manchmal über das Ziel hinausgehen - nur das bringe die Leute zum Nachdenken.

"Gestorben im Kampf gegen Idioten"

Die Rue Nicolas Appert ist am Tag nach dem Angriff abgesperrt, Polizisten stehen vor dem Haus, in dem sich die Redaktionsräume von Charlie Hebdo befinden. Eine unscheinbare Querstraße, graue, vierstöckige Gebäude, hauptsächlich Büros gibt es hier, eine Schule, ein paar Wohnungen; die Straße ist nass vom Regen, die Wolken hängen tief.

Hier, im Westen des Viertels Saint Ambroise im 11. Arrondissement von Paris, lassen sich überall Zeichen dessen erkennen, was gestern passiert ist: Vor mehreren Hauseingängen stehen Sicherheitsleute, Absperrgitter sind zur Seite geschoben, rot-weiße Bänder kringeln sich auf dem Boden. Dann die ersten Straßensperren in den Gassen, die unmittelbar zur Rue Nicolas Appert führen. Immer wieder kommen Menschen vorbei, legen Blumen nieder. "Charb, Cabu, Wolinski", hat jemand mit dickem schwarzen Edding an eine Hauswand geschrieben, "gestorben im Kampf gegen Idioten".

Tödliche Schüsse vorm Bürofenster

Direkt neben einem der Absperrgitter öffnet sich plötzlich eine Tür. Zwei Frauen und ein Mann treten auf die Straße. Raucherpause. Sie arbeiten hier bei einem Internet-Startup. Zumindest an normalen Tagen - was sie heute machen sollen, wissen sie nicht genau.

Die 31-jährige Morgane zieht an ihrer Zigarette. "Ich fühle mich so leer. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, aktiv werden zu müssen. Wir müssen doch irgendetwas tun, damit so etwas nicht noch einmal passiert", sagt sie. Die Kollegen haben die Schüsse vom Büro aus gehört. "Jeden einzelnen", sagt einer, der seinen Namen nicht nennen möchte. "Bumm, bumm, bumm", ahmt er die Schüsse nach, zielt mit der rechten Hand die Straße hinunter.

Die gesamte Belegschaft sei dann aufs Dach gelaufen, um von oben nachzusehen, was vor sich ging. Sie haben einen dunklen Wagen gesehen, möglicherweise den Wagen der Täter. Und dann: Hunderte Polizisten, tote Menschen, verletzte Menschen, schreiende Kinder. "Plötzlich war alles, was man sonst aus den Nachrichten kennt, ganz nah", sagt Morgane.

Ein paar Meter weiter, im Café Les Artistes, läuft der Fernseher und verkündet die neuesten Entwicklungen. Es soll Angriffe auf mehrere muslimische Einrichtungen gegeben haben. Der Barmann steht hinter dem Tresen und gibt einem Fernsehteam ein Interview. Die Wagen der Nachrichtensender stehen in einer langen Reihe den Boulevard Richard Lenoir entlang. Alle wollen jetzt wissen, wie es den Menschen im Viertel geht.

"Eigentlich müsste man jetzt mehr tun"

Um die Ecke, in der Rue Amelot, ist es deutlich ruhiger. Hier liegt das Café von Marie Pourrech. Die 43-Jährige sitzt mit dem Computer an einem der hellen Tische, gemeinsam mit Studentin Anna Dupupet, die hier aushilft. Normalerweise tragen sie zur Arbeit weiße Hemden, heute haben sie sich für Schwarz entschieden. "Den Umständen entsprechend."

Paris nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo": Marie Pourrech (r.) und Anna Dupupet arbeiten in einem Café in der Nähe der Redaktion von "Charlie Hebdo".

Marie Pourrech (r.) und Anna Dupupet arbeiten in einem Café in der Nähe der Redaktion von "Charlie Hebdo".

(Foto: Felicitas Kock)

Als am Vortag um kurz vor halb 11 der Anruf ihres Mannes kam, erzählt Pourrech, habe sie zuerst an ihre Kinder gedacht. Ein Sohn und eine Tochter besuchen die Schule, deren Haupteingang nur 20 Meter vom Gebäude der Charlie-Hebdo-Redaktion entfernt liegt. Der Vormittagsunterricht der Kinder war gerade zu Ende, als die Attentäter angriffen. Die Kinder hörten die Schüsse, kamen sicher nach Hause, wo der Vater sie empfing. Marie Pourrech und ihre Angestellte verbarrikadierten sich im Laden. "Wir wussten zunächst nicht genau, was los war", sagt die 43-Jährige, "nur, dass es eine Schießerei gegeben hat".

Dann seien die ersten Nachrichten über das Internet gekommen: Angriff auf Charlie Hebdo, mehr als zehn Tote, Attentäter auf der Flucht. Draußen vor dem großen Schaufenster des Cafés liefen da schon die ersten Polizisten herum und durchsuchten die Mülleimer.

"Was da in unserer unmittelbaren Nachbarschaft passiert ist, habe ich erst abends wirklich kapiert", sagt Pourrech. Als ihr kleiner Sohn bei einem lauten Geräusch auf der Straße zusammenzuckte und zu weinen begann. "Es ist ein schrecklicher Angriff, der uns ins Mark trifft. Die Menschen im Viertel, das sind viele Künstler, Journalisten, Kreative." Hat sie von den Angriffen auf muslimische Einrichtungen gehört? "Ja", sagt Pourrech, "das ist ungeheuer schlimm." Sie habe sich am Abend des Anschlags noch bei einer muslimischen Freundin nach dem Befinden erkundigt. Die Antwort liest sie vom Display ihres Mobiltelefons ab: "Ich fühle mich schrecklich, ich schäme mich so, wir werden uns jetzt verstecken müssen, wir haben Angst."

"Eigentlich müsste man jetzt mehr tun", sagt Pourrech und starrt in Gedanken auf ihr Telefon. Die Kraft scheint dafür im Moment noch nicht zu reichen. Schon dass sie ihr Café heute wieder aufgemacht haben, kommt Pourrech und Dupupet komisch vor. Aber vielleicht will ja jemand Mittagessen. Jemand, der nach dem Anschlag noch etwas hinunterbekommt.

In Paris scheinen viele am Tag nach dem Angriff ratlos, wissen nicht, was jetzt zu tun ist. Nur das Gefühl, enger zusammenrücken zu müssen, ist spürbar - im Viertel Saint Ambroise wie auch auf der Place de la République.

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