Ostern:Es ist Zeit für die Entteufelung des Judas

Easter Celebrations in Jerusalem

Osterfeierlichkeiten in Jerusalem. Das Osterlicht fällt nur auf Jesus, nicht der kleinste Strahl auf Judas.

(Foto: Getty Images)

Die Figur des Judas wurde jahrhundertelang instrumentalisiert. Sie hat den Antisemitismus beflügelt und für Gnadenlosigkeit gegenüber angeblichen Verrätern gesorgt. Ostern ist die Zeit für einen neuen Blick.

Kommentar von Heribert Prantl

Sein Name gilt bis heute als Inbegriff für Treulosigkeit, Habgier und Falschheit. Er ist der Schurke, der Schuft, die Verkörperung des Bösen im Ostergeschehen. Er ist es so sehr, dass deutsche Standesämter diesen Vornamen als "herabwürdigend" ablehnen: Judas. Die Beschimpfungskraft des Namens ist so groß, dass er auch unausgesprochen jeden trifft, der als "Verräter" bezeichnet wird. Sein gut gepflegter schlechter Ruf ließ und lässt sich von jeder Ideologie gebrauchen und missbrauchen, um die jeweils anderen, die Andersgläubigen und die Andershandelnden, zu diskreditieren. Judas gehört zu den instrumentalisierbarsten Figuren der Weltgeschichte. Es ist Zeit für seine Entteufelung. Ostern ist die Zeit dafür.

Die Judas-Geschichte geht so: Judas, einer der engsten Vertrauten des Jesus von Nazareth, geht, warum auch immer, zu denen, die Jesus ans Leben wollen und verkauft ihn für den Judaslohn von dreißig Silberlingen. Dafür, so verspricht er, liefert er ihn aus; und er tut es.

Das Wort "ausliefern" kracht wie Hammerschläge durch den Text der Passionsgeschichte. Und Judas liefert seinen Lehrmeister Jesus auf eine besonders gemeine Weise aus: Er küsst ihn - zum Zeichen, dass der Geküsste derjenige ist, der verhaftet und verurteilt werden soll. Als das dann geschehen ist, reut den Judas seine Tat. Er rennt zurück zu seinen Auftraggebern, will das Geld zurückgeben und bekennt, dass er Unrecht getan hat gegen "unschuldiges Blut", wie er sagt; aber keiner hört mehr auf ihn, keiner will ihn hören; die Geschichte geht über ihn hinweg; keiner nimmt das Geld zurück. Judas wirft es verzweifelt in den Tempel und erhängt sich. So erzählt es der Evangelist Matthäus. Der Verräter stirbt am gleichen Tag wie der von ihm Verratene - Jesus am Kreuz, Judas am Strick.

Diese Verratsgeschichte ist auch deswegen so furchtbar, weil sie so heillos ist. Für den Verräter gibt es keinen Hauch von Erbarmen, kein Fitzelchen Gnade. Niemand interessiert sich für seine Verzweiflung. Die Reue? Zu spät. Es findet sich niemand, der das Schuldbekenntnis wenigstens entgegennimmt. Kein Gehör, keine Gnade. Judas verkörpert den Menschen, der keine Vergebung finden kann, weil es niemanden gibt, der den Willen oder die Macht dazu hat - weil der Verrat als so ungeheuerlich gilt. Das bleibt eigenartigerweise auch nach der Auferstehung des Jesus so. Der Verratene triumphiert über den ewigen Tod, aber der tote Verräter bleibt ewig in Schimpf und Schande. Vom Osterlicht fällt nicht der kleinste Strahl auf Judas.

Das Christentum hätte dem Judas nicht nur zugutehalten können, dass er Reue gezeigt hat; es hätte ihm auch zugutehalten können, dass der Verrat des Judas ein Teil des Heilsgeschehens war. Hätte es ohne den Verrat den Tod am Kreuz, hätte es die Auferstehung, hätte es das Christentum gegeben? Man könnte Judas zugutehalten, dass er eigentlich nur die Rolle gespielt hat, die vorbestimmt war, die irgendjemand übernehmen musste - und er letztlich im Einklang mit dem Willen Jesu gehandelt hat. War er ein Verräter aus Gehorsam? Dichter haben solche Gedanken eindrucksvoll entwickelt. Sie verlangten, Judas selig zu preisen, weil er den Verrat auf sich genommen habe, so wie Jesus das Kreuz auf sich genommen habe.

Warum musste Jesus durch einen Kuss markiert werden, wo der Aufrührer doch in Jerusalem stadtbekannt war? Haben Judas und Jesus bewusst und gewollt zusammengewirkt? Für manche in der Kirche sind solche Versuche, Judas in Schutz zu nehmen und den Verrat theologisch zu legitimieren, ein Frevel. Indes: Fragen und Zweifel sind kein Frevel, sie verhindern ihn.

Wirklich frevlerisch war, was unter Berufung auf Judas verbrochen wurde. Jahrhundertelang wurde Judas mit den Juden schlechthin gleichgesetzt. Die Gleichsetzung prägte Passionsspiele; und Christen ließen sich zu Pogromen hinreißen. Die orgiastische Verdammung des Judas hat den Antisemitismus, der gerade wieder neu auflebt, beflügelt. Auch deswegen verstört die Gnadenlosigkeit der Judas-Geschichte. Braucht man den angeblich ewig Verdammten dafür, um selbst gnadenlos sein zu dürfen gegen alle, die man als Verräter benennt? Das Judas-Hasslied erhält dann neue Strophen, die vom "Vaterlandsverrat" oder von "Volksverrätern" handeln.

Es gibt viele Machthaber, die den Verrat brauchen

Ein Lobpreis des Verräters wäre so falsch wie seine ewige Verdammung. Verrat kann entsetzlich gemein, Verrat kann auch heilsam sein, als Whistleblowerei etwa. Man kann es verstehen, wenn Angehörige der Weißen Rose die Denunzianten, die ihre Kinder zu Tode brachten, verdammen. Für solche Widerstandsgruppen ist Verrat äußerste Bedrohung. Es gibt aber sehr viel mehr Machthaber, die den angeblichen Verräter als Feind geradezu brauchen, um sich machtpolitisch zu plustern; sie brauchen ihn für Machtgewinn und Machterhalt; er verhilft dem Täter zum Opferstatus. Aus der Position des Opfers heraus legitimiert er Aggression und Tabubruch als Selbstverteidigung. Das funktioniert bei einem Autokraten wie Erdoğan; das versuchen populistische Extremisten, die sich als Vertreter des "von der Politik" verratenen Volkes gerieren. Ihre Verratspolitik setzt auf Hass und Ausgrenzung. Entteufelung gehört zur Politik gegen den Hass. Entteufelung heißt, dem Judas in sich selbst zu begegnen.

"Ich bin's, ich sollte büßen" heißt es im Text von Paul Gerhardt, den Bach in seiner Matthäuspassion vertont hat. Er zeigt den Weg zur selbstkritischen Judas-Interpretation. Sie gemahnt an den Judas in einem selber. Man weiß, dass man selbst versucht ist zu verraten, dass man es manchmal tut: Man verrät Menschen, die einem nah sind und Ideale, die einem am Herzen liegen; für weniger als dreißig Silberlinge, sogar aus gutem Willen.

In Burgund, in der Basilika Saint-Marie-Madeleine, sieht man eine wundersame Darstellung: Dort nimmt Christus den Leichnam des erhängten Judas auf seine Schultern und trägt ihn wie der gute Hirt das verlorene Schaf. Das ist ein Osterbild.

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