Oscar Pistorius vor Gericht:Last der Widersprüche

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Während seiner sieben Tage im Zeugenstand gelang es Oscar Pistorius nicht, die Widersprüche zwischen seiner Version der Tatnacht und dem Vorwurf der Anklage auszuräumen. Die strittigen Punkte im Überblick.

Von Felicitas Kock und Lena Jakat

Sieben Tage lang war der Angeklagte Oscar Pistorius selbst im Zeugenstand. Er hatte sich zentralen Fragen durch Staatsanwalt Gerrie Nel zu stellen. Doch es gelang ihm nicht, alle Widersprüche zwischen seiner Version der Tatnacht und dem Ablauf nach Ansicht der Anklage auszuräumen. Die wichtigsten im Überblick:

Der Vorabend

Noch früh am Abend seien er und Reeva nach oben ins Schlafzimmer gegangen, es sei ein anstrengender Tag gewesen, sagt Pistorius. Weil die Klimaanlage nicht funktionierte, habe er die Balkontüren geöffnet und zwei Ventilatoren dazwischen platziert. Um Mücken fernzuhalten, habe er die Vorhänge um die Ventilatoren herum so gut es ging geschlossen. Reeva habe ferngesehen, er selbst telefoniert. Später habe er seine Freundin trotz der Hitze im Zimmer gebeten, die Balkontüren zu schließen und sei eingeschlafen. Als e nachts wieder erwachte, sei Reeva wach gewesen. Sie habe gefragt: "Kannst du nicht schlafen, Baba?" So schildert Oscar Pistorius die Stunden vor Steenkamps Tod.

Die Staatsanwaltschaft geht dagegen davon aus, dass es in der Nacht zum Streit zwischen Steenkamp und Pistorius kam. Dafür sprechen Zeugenaussagen mehrerer Nachbarn, denen zufolge eine lautstarke Auseinandersetzung und die Schreie einer Frau zu hören waren. Gegen das frühe Zubettgehen soll auch die Aussage eines Gerichtsmediziners sprechen, derzufolge Steenkamp nach Mitternacht, etwa zwei Stunden vor ihrem Tod, noch etwas gegessen hat.

Das Bett

Nachdem er neben der ebenfalls wach liegenden Reeva aufwachte, stellte Pistorius - so seine eigene Aussage - fest, dass die Balkontüren noch immer offenstanden. Er stieg auf seinen Beinstümpfen aus dem Bett, holte die Ventilatoren ins Schlafzimmer. Es sei stockdunkel im Schlafzimmer gewesen, sagt Pistorius, als er gehört habe, wie ein Fenster im Badezimmer geöffnet wurde. "Ich dachte, es sei ein Einbrecher. Ich glaube, zuerst war ich starr vor Schreck." Zwischen Bad und Schlafzimmer gibt es keine Tür, die beiden Räume verbindet ein von Kleiderschränken gesäumter Gang. "Mein erster Gedanke war, dass ich mich bewaffnen muss." Er habe nach der Waffe unter dem Bett gegriffen und sei, noch immer ohne Prothesen, in den Flur zum Bad geeilt, um sich zwischen Reeva und den vermeintlichen Angreifer zu bringen. Er habe Reeva zugeraunt, sich auf den Boden zu legen und die Polizei zu rufen.

Die Anklage versucht an diesem Punkt, den Mangel an Plausibilität herauszuarbeiten. Wie konnte Pistorius nicht merken, dass Steenkamp nicht im Bett lag, als er die Waffe darunter hervorholte? Warum wartete er nicht auf Antwort? Wie konnte er versäumen, dass sie aufgestanden und zur Toilette gegangen war? Staatsanwalt Gerrie Nel unterstützt seine Nachfragen mit Tatort-Fotos, die Widersprüchlichkeiten in Pistorius' Version offenbaren sollen: Eine Jeans, die er angeblich fallen ließ, die jedoch später unter der Bettdecke am Boden lag. Eine Steckerleiste, die sich in anderer Position hätte befinden müssen.

Die Schüsse

"Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte ich vier Schüsse abgegeben", sagt Oscar Pistorius. Er habe im Bad gestanden, sein Blick sei hin- und hergewandert zwischen dem geöffneten Fenster (durch das, so fürchtete er, jeden Moment ein Einbrecher einsteigen könnte) und der geschlossenen Toilettentür (die er zuvor zuschlagen gehört hatte). Dann hörte er ein Geräusch aus der Toilette - und schoss. Im Kreuzverhör tut er sich schwer, zu erklären, warum er feuerte, aber "nie die Absicht hatte, jemanden zu erschießen." Zu keinem Zeitpunkt habe er Reeva schreien gehört. Zudem hat die Verteidigung früher im Prozess zu Protokoll gegeben, dass Pistorius zwei Doppelschläge abgegeben habe - zwei mal zwei schnell aufeinander folgende Schüsse.

Die Staatsanwaltschaft hält daran fest, dass Reevas Schreie zu hören waren. Sie stützt sich auf drei Hauptargumente: Erstens sei Pistorius' Bericht unglaubwürdig, er habe seiner Freundin zugerufen, aber nie eine Antwort erhalten oder abgewartet. Zweitens sagte der Ballistiker Chris Mangena aus, dass Steenkamp Zeit und Gelegenheit hatte, um ihr Leben zu schreien, nachdem sie die erste Kugel getroffen hatte. Drittens gibt es Nachbarn, die von Schreien einer Frau berichten, die sie hörten, als die Schüsse fielen.

Die Absicht

Pistorius betont kontinuierlich, nicht in Tötungsabsicht geschossen haben. "Ich wollte niemanden töten", antwortet er immer wieder auf Staatsanwalt Nels drängende Fragen. Das alles sei ein Versehen gewesen. Weder habe er Reeva Steenkamp umbringen wollen noch irgendjemand anderen. Im Kreuzverhör muss Pistorius gleichwohl eingestehen, dass sich die Schüsse aus seiner Waffe nicht "versehentlich" lösten.

Die Staatsanwaltschaft versucht, Pistorius Mord nachzuweisen - die Tötungsabsicht ist dafür entscheidend. Selbst falls die Schilderungen des Angeklagten der Wahrheit entsprächen, so die Argumentation, habe er mit der Intention auf die Toilettentür gefeuert, die dahinter befindliche Person zu töten. Nel führt dafür diverse Argumente an: Pistorius habe sich der vermeintlichen Gefahrenquelle genähert, statt sich aus dem Schlafzimmer in Sicherheit zu flüchten. Er habe sich mit gezogener, entsicherter Waffe ins Bad vorgetastet. Er verweist auch auf die offenkundige Frage, warum sich einer oder mehrere Einbrecher in die Toilette flüchten sollten.

Oscar Pistorius' Version der Tatnacht
:"Der Moment, der alles veränderte"

Als er erwacht, ist es heiß im Zimmer, Reeva Steenkamp liegt ebenfalls wach. Er holt die Ventilatoren vom Balkon herein, dann hört er ein Geräusch. So schilderte Oscar Pistorius im Prozess die Ereignisse der Tatnacht.

Die Prothesen

Nach Pistorius' Version trug er keine Prothesen, als er durch die Tür feuerte; ein Grund, warum er sich so bedroht fühlte. Er legte die Kunststoffstützen demnach später an, um die Toilettentür mit einem Cricket-Schläger einzuschlagen - nach den Schüssen und nachdem er bemerkt hatte, dass Reeva sich nicht im Bett befand.

Kriminaltechniker Johannes Vermeulen widerspricht. Die Überprüfung der Spuren auf der Tür lege vielmehr nahe, dass Pistorius nicht nur beim Abfeuern seiner Pistole auf Beinstümpfen war, sondern auch, als er auf das Holz einhieb. Die Verteidigung zweifelt an den Ergebnissen Vermeulens - auch weil die Tür nicht fachgerecht verwahrt wurde, sondern sich vorübergehend im Büro eines Polizisten befand. So oder so ist unklar, warum Pistorius an dieser Stelle gelogen haben sollte.

Die Reaktion

Nachdem er die Toilettentür mit dem Cricket-Schläger eingeschlagen und sich über die blutende Reeva gebeugt hatte, rannte er zurück ins Schlafzimmer und schrie um Hilfe. So berichtet es der Angeklagte. Und weiter: Telefonisch verständigte er zuerst den Manager des Wohnkomplexes Johan Stander, dann den medizinischen Notdienst Netcare. Dieser hätte ihm gesagt, er solle nicht warten, sondern sofort ins Krankenhaus fahren. Also nahm er Reeva Steenkamp in den Arm und trug sie nach unten. Stander und seine Tochter trafen ein, wenig später Johan Stipp, ein Arzt aus der Nachbarschaft, und schließlich die Notärzte.

Ein Zeuge der Anklage, der Security-Mitarbeiter Pieter Baba, sagte aus, er habe bei Pistorius' Haus angerufen, nachdem er die Schüsse gehört habe. Auf seine Frage, ob alles in Ordnung sei, habe der Angeklagte geantwortet: "Security, alles ist in Ordnung." Und warum rief Pistorius nicht zuallererst den Notarzt?

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