Oldenburg: Kindsmord vor 26 Jahren:Faserspuren der Erinnerung

Es hat sie mehr als ein Vierteljahrhundert gequält: Als Neunjährige will Daniela A. gesehen haben, wie ihre Tante den damals vierjährigen Markus erdrosselt hat. Nun sagt sie als Hauptzeugin vor Gericht aus.

Hans Holzhaider

Dies ist ein schwerer Gang für Daniela A., darüber jedenfalls kann es nicht den Schatten eines Zweifels geben. Sie hat sich entschlossen, etwas zu erzählen, das sie 25 Jahre lang gequält hat, das sie 25 Jahre lang niemandem anzuvertrauen wagte, aus Angst vor jener Frau, die jetzt zwei Armlängen von ihr entfernt sitzt.

Oldenburg: Kindsmord vor 26 Jahren: Steht wegen Mordes vor Gericht: Die 49 Jahre alte Monika K..

Steht wegen Mordes vor Gericht: Die 49 Jahre alte Monika K..

(Foto: Foto: dpa)

Daniela A. hat es sorgfältig vermieden, diese Frau anzuschauen, als sie den Gerichtssaal betrat. Ihr ganzes Leben ist unter dieser schrecklichen Bürde in die Brüche gegangen; so empfindet sie es zumindest. In der Schule hat sie versagt. Sie hat einen unbeherrschbaren Drang entwickelt, sich selbst zu verletzen, sich die Arme aufzuritzen.

Sie hat Betrügereien begangen, musste dafür ins Gefängnis. Sie hat drei Kinder geboren, für keines kann sie sorgen. Sie hat dreimal geheiratet und ist dreimal geschieden. Jetzt soll damit Schluss sein. "Ich will nicht so weitermachen", sagt Daniela A., "ich will ein normales Leben führen." Deshalb sitzt sie jetzt hier, als Zeugin vor dem Landgericht Oldenburg in der Strafsache gegen Monika K. wegen Mordes.

Monika K. ist angeklagt, ihren vier Jahre alten Sohn Markus mit einer Strumpfhose erdrosselt zu haben. Ob sie verurteilt wird, hängt davon ab, ob das Gericht Daniela A. glaubt. Denn Daniela A. behauptet, sie habe den Mord mitangesehen. Damals, an einem Augusttag des Jahres 1981, als Neunjährige, die gerade in die vierte Klasse gekommen war. Das muss jetzt erzählt werden, so schwer das auch sein mag.

Auf Verfolgungsjagd

"Wir wollen uns mal diesem Tag annähern", sagt Harald Leifert, der Vorsitzende Richter der 5. Strafkammer. Daniela A. holt tief Luft. Also. Die Schule war früher aus an diesem Tag. Die Eltern waren nicht zu Hause, sie arbeiteten beide. Der Vater in einer Fleischerei, die Mutter als Putzfrau - kleine Leute, aber in durchaus geordneten Verhältnissen.

Daniela ging zum Mittagessen entweder zur Oma, zwei Häuser weiter, oder zu Onkel Dieter und Tante Monika, ein Stück die Straße runter. Onkel Dieter war der Bruder von Danielas Vater. Sie hatten zwei Kinder, Markus, knapp fünf, und den dreijährigen Thomas.

Daniela wusste nichts davon, dass Markus in Wirklichkeit nicht Onkel Dieters Sohn war, sondern aus einer vorehelichen Beziehung von Tante Monika stammte.

Faserspuren der Erinnerung

Markus war Danielas liebster Spielkamerad, trotz des Altersunterschieds. Sie fühlte sich gewissermaßen als seine Beschützerin. Zweimal - das hatte sie dem Gericht schon am Vortag geschildert - habe sie miterlebt, wie Tante Monika Markus Schaden zufügen wollte.

Oldenburg: Kindsmord vor 26 Jahren: Die 49 Jahre alte Monika K. mit ihrer Anwältin im Landgericht Oldenburg.

Die 49 Jahre alte Monika K. mit ihrer Anwältin im Landgericht Oldenburg.

(Foto: Foto: dpa)

Einmal habe sie ihn die Treppe aus dem ersten Stock hinuntergestoßen. Mit der flachen Hand einen Stoß in den Rücken, Daniela sagt, sie habe das Bild noch deutlich vor Augen. Sie sei gerade zur Haustür hereingekommen, sie habe den Kleinen gerade noch am Fuß der Treppe auffangen können.

Ein anderes Mal habe sie gesehen, wie die Tante dem kleinen Markus etwas aus einer blauen Flasche, die sie unter der Spüle herausgenommen hatte, in sein Milchglas goss. Aus der Beschreibung der Flasche schloss die Polizei, es müsse sich um K2R gehandelt haben, ein ätzendes Reinigungsmittel.

Sie habe dann, als die Tante kurz die Küche verließ, das Glas ausgekippt und frische Milch nachgegossen, sagt Daniela.

An der Kasse gab es Streit

An jenem Tag also, es war der 19. August 1981, ging Daniela gleich nach der Schule wieder zum Haus des Onkels. Er selbst war nicht da, er arbeitete auswärts. Den kleinen Bruder Thomas habe sie nirgends gesehen. Sie fuhren zusammen mit den Fahrrädern einkaufen, Tante Monika, Markus und Daniela.

An der Kasse gab es lautstarken Streit, weil Markus unbedingt ein Überraschungsei haben wollte. "Du wirst schon sehen, was du davon hast", habe Tante Monika den Jungen angeschrieen. Als sie wieder zu Hause waren, habe sie noch mit Markus vor dem Haus gespielt, sagt Daniela.

Dann kam die Tante und sagte, sie müsse jetzt weg mit Markus. "Ich sagte, kann ich mit, aber sie sagte, nein, geht nicht, geh' heim." Aber Daniela fuhr den beiden nach mit ihrem roten Kinderfahrrad. An der nächsten Ecke hielt die Tante an und schickte Daniela noch einmal weg.

Von da an achtete Daniela darauf, dass sie nicht gesehen wurde. Der Richter bittet Daniela nach vorne an den Richtertisch. Sie zeigt auf dem Stadtplan, wo sie gefahren ist.

Meerkamp, Dwaschweg, am Kiosk vorbei, dann durch das Kreyencentrum, das ist ein Einkaufszentrum im Ortsteil Kreyenbrück, sie weiß das noch genau, auf der einen Seite durch die Glastüren rein, auf der anderen Seite wieder raus.

Dann in die Bahnhofsallee, da hat sie sich wieder versteckt, und beobachtet, wie die Tante mit Markus auf dem Kindersitz nach rechts in einen Schotterweg abbog, der zum Bahndamm hinaufführte. Da war eine Bushaltestelle, nur so ein Schild, kein Wartehäuschen, da stellte Daniela ihr Fahrrad ab und schlich zu Fuß der Tante nach.

Faserspuren der Erinnerung

Das kommt dem Richter seltsam vor. Warum stellte sie ihr Fahrrad ab? Sie wusste doch gar nicht, wie es da oben weitergehen würde? Daniela kann es nicht erklären. Gut, also weiter. "Sie gehen da hoch. Was haben Sie gesehen?"

Eine lange, lange Pause. Daniela kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihre Stimme klingt jetzt, als ob ihr etwas den Hals zuschnürt. "Es ist so, dass sie da hochgelaufen ist . . ." Richter Leifert wartet geduldig. Er tut nichts, um den Erzählfluss zu beschleunigen.

"Sie hat was rausgenommen, Strumpf, Strumpfhose, kann's nicht sagen." Wo herausgenommen? Plastiktüte, Tasche, Korb? "Kann's nicht sagen." Daniela weint jetzt heftig, stockend. "Wie weit waren sie entfernt?" "Weiß nicht. 20 Meter, 30, 40 . . ."

"Er hat gezappelt"

"Was haben Sie gesehen?" "Dass sie ihn geschlagen hat. Er hat gezappelt." Tränen, Tränen. "Was hat gezappelt? Arme, Beine?" "Die Arme". Sie kann jetzt kaum noch sprechen vor lauter Schluchzen. "Haben Sie gesehen, dass er hingefallen ist?" "Kann's nicht sagen.

Das Zappeln hat dann aufgehört. Die Arme sind so runtergefallen. Dann bin ich weggelaufen. Auf's Fahrrad und weg." "Schnell?", fragt Richter Leifert. "Sehr schnell." Und dann merkte sie, dass Tante Monika sie verfolgte. Sie rief hinter ihr her: "Du Krücke, bleib stehen!"

An der Ecke Meerkamp, schon fast zu Hause, habe die Tante sie eingeholt, sagt Daniela. Habe sie von der Straße gedrängt und sie festgehalten und gesagt: "Dir passiert das Gleiche, wenn du was sagst. Du weißt ja jetzt, wie's geht." Dann war die Tante plötzlich weg, wie vom Erdboden verschwunden.

Daniela sagte kein Wort

Und Daniela radelte heim, schmiss das Fahrrad hin und verschwand in ihr Zimmer. Sagte zu niemandem etwas, kein Wort. Nur spätabends, als die Polizei schon nach Markus suchte, habe sie zur Oma gesagt: "Sie sollen in den Büschen suchen."

Die Oma sagte: "Das hast du nur geträumt." Von diesem Augenblick habe sie in immerwährender Angst gelebt. Manchmal habe die Tante an das Fenster ihres Kinderzimmers geklopft. Manchmal sei sie plötzlich in der Kellertür gestanden.

Ein Albtraum, der nicht enden wollte, nicht einmal, als Onkel und Tante fünf Jahre später nach Süddeutschland zogen.

Monika K., 46, hat das alles ohne eine sichtbare Gefühlsregung mit angehört. Hat sie keine Gefühle, oder gehört sie nur zu den Menschen, bei denen Gefühle nicht bis an die Oberfläche der Gesichtszüge durchdringen? Wer will das wissen.

Faserspuren der Erinnerung

Damals, vor 26 Jahren, hat ihre scheinbare Gefühlsarmut sie den ermittelnden Kriminalbeamten jedenfalls sehr verdächtig erscheinen lassen. Diese Kälte, diese Distanziertheit, mit der sie das Verschwinden ihres kleinen Sohnes hinnahm. "Außergewöhnlich" sei das gewesen, "erschreckend", hat einer der Polizeibeamten als Zeuge ausgesagt.

Es gab weitere Indizien, die auf Monika K. als Täterin hinwiesen: An der Strumpfhose, mit der Markus erdrosselt wurde, fanden sich Faserspuren aus der Wohnung der Familie. An einer Strickjacke der Mutter hafteten Kletten, wie sie auch am Fundort der Leiche wuchsen.

Zu wenig für eine Anklage

Für eine Anklage reichte das nicht aus, vor allem, weil der Gerichtsmediziner damals mit großer Sicherheit den Zeitpunkt des Todes auf den Zeitraum zwischen 18 und 22Uhr eingrenzte. Wenn das stimmte, käme Monika K. als Täterin nicht in Frage.

Aber dieser Einwand ist hinfällig geworden. Eine so enge Eingrenzung des Todeszeitpunkts, sagt ein Sachverständiger, sei nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis nicht aufrechtzuerhalten.

Viel zu viele Unwägbarkeiten. Durchaus möglich, dass Markus schon am frühen Nachmittag starb, wie Daniela A. es beobachtet haben will.

So reduziert sich also alles auf die eine, große Frage: Ist es wahr, was Daniela A. erzählt? Hat sie das alles wirklich erlebt, oder besteht die Möglichkeit, dass sie sich an etwas zu erinnern glaubt, das in Wirklichkeit nie stattgefunden hat?

Daniela A. hat ihre Erzählung beendet. Alle sind erschöpft. Ehe die Zeugin weiter befragt wird, will das Gericht jetzt eine Pause einlegen. Vorher verliest Richter Leifert aber noch ein Fax. Es ist erst am Abend vorher eingegangen.

Im Jahre 1981 exitierte die Bushaltestelle nicht

Die Verkehrsbetriebe Oldenburg teilen auf Anfrage mit, dass die Bushaltestelle "Am Wüschemeer" - eben jene, an der Daniela A. damals ihr Kinderfahrrad abgestellt haben will - im Jahr 1981 noch nicht existierte. Sie wurde erst 1984 eingerichtet, nach Eröffnung der Buslinie 12, was wiederum damit zusammenhängt, dass in diesem Jahr auch das "Kreyencentrum" gebaut wurde.

Drei Jahre nach dem Mord an Markus. Daniela A. hatte detailreich geschildert, wie sie bei der Verfolgung ihrer Tante Monika die Glastüren dieses Einkaufszentrums passiert hatte. Richter Leifert ist ein Mann von heiterem und ausgleichendem Naturell, er neigt nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen.

Aber jetzt legt er seine Stirn in ernste Falten und sagt: "Diese Tatsache hat mich doch relativ überrascht." Man hätte erwarten dürfen, dass die Polizei einen so einfachen Sachverhalt schon im Zuge ihrer Ermittlungen überprüft.

Faserspuren der Erinnerung

Das Gericht hat einen Sachverständigen bestellt, der die Glaubwürdigkeit der Zeugin Daniela A. beurteilen soll. Professor Max Steller ist forensischer Psychologe an der Charité in Berlin.

Er sagt, der Wissenschaft sei durchaus das Phänomen der "Scheinerinnerung" bekannt. Dass jemand also subjektiv fest davon überzeugt sei, sich an etwas zu erinnern, was aber in der Realität so nicht stattgefunden habe.

Bisher ist Danielas Aussage glaubwürdig

Bisher gab es keinen konkreten Anhaltspunkt, an der Aussage von Daniela A. zu zweifeln. Wenn sich nun aber herausstellen sollte, dass ein oder mehrere, von der Zeugin anschaulich vorgetragene Details objektiv so nicht zutreffen könnten, dann, sagt der Professor, breche damit die ganze Aussage zusammen.

Andererseits aber ist da die Geschichte mit dem Jungen. Damit verhält es sich so: Als die Polizei mit Daniela A. den Weg rekonstruierte, auf dem sie damals ihre Tante verfolgt hatte, und als Daniela mit einer Polizeibeamtin auf einer Bank an der bewussten Bushaltestelle saß, da kam ihr plötzlich eine Erinnerung.

"Da drüben stand ein Junge", sagte sie. Die Polizeibeamtin schaute in die angegebene Richtung. Da stand kein Junge. "Nein", sagte Daniela, "damals. Damals stand da ein Junge."

Den Jungen gibt es tatsächlich

Aus den Ermittlungsakten von 1981 geht hervor, dass es diesen Jungen tatsächlich gibt. Seine Mutter hatte sich bei der Polizei gemeldet, ihr Sohn habe etwas gesehen.

Er hatte gesehen, wie eine Frau, gerade zu der Zeit, die auch Daniela angegeben hatte, ein Fahrrad zum Bahndamm hoch schob, mit einem Kind auf dem Gepäckträger.

Wenn das so war, wenn sich Daniela A. wirklich spontan und ohne Beeinflussung an diesen Jungen erinnert hat, dann lässt das nur einen Schluss zu: Ihre Erinnerung ist echt.

Der Sachverständige Steller sagt, dass auch er sich darauf keinen Reim machen könne. "Ich muss Sie", bescheidet er das Gericht, "mit der Beurteilung allein lassen."

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