Österreich:Wie ein Opfer zum Täter gemacht werden soll

  • 2006 widersetzt sich der Gambier Bakary J. seiner Abschiebung aus Österreich. Eine Gruppe von Polizisten bringt den Familienvater in eine Lagerhalle, wo sie ihn schwer misshandelt.
  • Vier Polizisten werden angeklagt, gestehen, erhalten Bewährungsstrafen.
  • In einem neuen Prozess bezweifelt ein Gutachter, dass Bakary traumatisiert ist.
  • Die damals geständigen Polizisten fordern eine Wiederaufnahme des Verfahrens.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Es ist eine schaurige Gruppendynamik, die sich da entfaltet: drei Polizisten, einer jung, einer desinteressiert, einer aggressiv; dazwischen sitzt, eingeklemmt, ein schwarzer, verängstigter Mann. Der junge Beamte, "Burschi", will sich raushalten, aber er will auch kein Kameradenschwein sein. Der Sadist in der Gruppe bedroht den Schwarzen. "Burschi" weiß, was von ihm erwartet wird, "Motherfucker" quetscht er zwischen den Zähnen hervor. Der dritte im Bunde, der Fahrer, hat keine Lust auf eine Prügelorgie, aber er will auch kein Weichei sein; soll er etwa vor den Kollegen als Versager dastehen und den gefangenen Ausländer, der nur Ärger macht, mit Samthandschuhen anfassen? Der Sadist bestellt einen vierten Kollegen herbei. Der Schwarze soll nicht davonkommen.

All das kann man in den ersten Minuten des Kurzfilms "Void" sehen, der in Österreich mittlerweile Polizeischülern zur Anschauung vorgeführt wird: Was passiert, wenn ein Opfer fertiggemacht werden soll - und keiner "Stop!" schreit. Das Ende ist schwer erträglich: Blut, zerschlagene Knochen, Erbrochenes, Atemnot, Wimmern - und adrenalingeschwängertes Gebrüll.

Im Falle von Bakary J. wird gerade die Gerechtigkeit rückabgewickelt

Die Geschichte dahinter basiert auf einem wahren Fall, dem Schicksal des Gambiers Bakary J. Der verheiratete Vater zweier Kinder widersetzte sich im Frühjahr 2006 seiner Abschiebung per Flugzeug, ein Pilot weigerte sich, den verzweifelten Mann mitzunehmen, dessen Familie noch in Wien war. Eine Gruppe von Polizisten fuhr, anstatt ihn vom Flughafen zurück ins Gefängnis zu bringen, in eine Lagerhalle. Dort wurde der Gambier gefesselt, zusammengeschlagen, gewürgt, zum Schluss mit dem Wagen überrollt. Erst eine Woche später wurde der Fall bekannt und erst drei Monate später Anklage erhoben gegen vier Polizisten wegen "Quälens eines Gefangenen". Die bekannten sich schuldig. Das Urteil: Acht Monate auf Bewährung; der Beamte, der zuschaute, bekam sechs.

Der Fall ist österreichische Zeitgeschichte: Acht Jahre ist er her, und eigentlich könnte man meinen, alles wäre gut - soweit etwas gut sein kann, wenn das Opfer unter einem schweren Trauma leidet. Es gab, immerhin, einen Prozess, ein Urteil, eine erste Entschädigung. Aber: Nichts ist gut. Denn im Falle von Bakary J. wird gerade die Gerechtigkeit rückabgewickelt.

Ob der gefolterte Mann wirklich traumatisiert ist, das wird derzeit in einem neuen Schadenersatzprozess untersucht - und bezweifelt. Ein Psychiater, von dem noch einiges zu berichten sein wird, stellt Leid infrage, das zuvor von sechs anderen Gutachtern dokumentiert worden ist. Er mag Worte wie Folter oder Qual gar nicht erst aussprechen. In seinem Gutachten, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, heißt das, was Bakary J. angetan wurde, nur: "Unbill". Der Duden übersetzt das lapidar mit "Unannehmlichkeit".

Polizisten wollen Wiederaufnahme des Verfahrens

Und mehr noch: Ob der Flüchtling überhaupt gefoltert wurde - oder sich die Verletzungen gar selbst zufügte -, das stellen auch die verurteilten Täter plötzlich infrage: Drei der vier Polizisten, die Bakary J. 2006 laut ihren damaligen Geständnissen zu Brei schlugen, haben jetzt einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt. Eine Medienhatz sei das damals gewesen, milde Strafen habe man ihnen in Aussicht gestellt, wenn sie sich schuldig bekennen würden, sagen sie. Bakary J. sei nur verletzt gewesen, weil er bei einem Fluchtversuch unter die Räder kam. Selbst schuld, sozusagen.

Die Kronenzeitung, die sich nie zu schade für eine Kampagne ist, publizierte ein Foto von Bakary J. mit geschwollenem Auge; diese Schwellung sei in den ersten Dokumentationen nicht enthalten, heißt es. Sollte da etwa eine Selbstverletzung festzustellen sein? Dann, mutmaßt die Krone flott, "würde alles in einem anderen Licht erscheinen".

Der Gambier, der die Welt nicht mehr versteht, sucht derweil fast täglich Hilfe bei seiner Therapeutin Friedrun Huemer in den Räumen von Hemayat, einem Betreuungszentrum für Folteropfer, in Wien. Warum, fragt er, soll er plötzlich ein Lügner sein, wo doch Computertomografien seine zertrümmerten Schädelknochen dokumentieren, wo doch die Polizisten durch Indizien wie Handy-Ortungen überführt wurden? Warum tut man ihm das an?

Körperliche und psychische Schäden

Bakary J., Sohn gambischer Gemüsebauern, der in seiner früheren Heimat am Flughafen arbeitete, bevor er nach einem Putsch abhaute, mag eigentlich nicht mehr reden. Er ist müde, er hat Angst, er hat Schmerzen, jede Erinnerung bringt neue Qual, aber im Gespräch über das Jetzt bricht das Damals aus ihm heraus: "Die Polizisten wollen mich fertigmachen, noch heute", ruft er, "die haben gesagt, sie hätten Order, mich zu töten. Bis heute haben sie es auf mich abgesehen. Jetzt wollen sie Rache, weil sie bestraft wurden."

Bakary J. ist physisch und mental zerstört. Medizinische Gutachten attestierten ihm Frakturen des Jochbeins, des Kiefers und der Augenhöhle sowie ein posttraumatisches Stress-Syndrom. Die Polizisten hingegen wurden anfangs nicht einmal vom Dienst suspendiert, sondern von einer Disziplinarkommission nur mit Geldstrafen belegt. Ein juristisches Hin und Her begann. Bis die drei Haupttäter den Polizeidienst verlassen mussten, vergingen sechs Jahre.

Sechs Jahre dauerte es auch, bis Bakary J. eine Aufenthaltsgenehmigung bekam. Seine Ehe ging in die Brüche, er leidet unter Schlaflosigkeit, Verfolgungsangst und Panikanfällen, weshalb er nicht arbeiten kann. Sein Anwalt, Nikolaus Rast, brachte 2012 eine Amtshaftungsklage ein und forderte für seinen Mandanten zusätzlich zu den 100 000 Euro, die dieser bereits von der österreichischen Finanzprokuratur bekommen hatte, 384 000 Euro und eine monatliche Rente von 1000 Euro. Rassisten in den sozialen Netzen rasteten aus: "Unglaublich, was dieser kriminelle Scheinasylant den Steuerzahler noch kosten wird." Oder auch: "Der Staatsgewalt widersetzt man sich halt nicht, wenn man unverletzt bleiben will, und aus."

Es geht um mögliche Zahlungen

Anwalt Rast rechnet vor, was das Gesetz im Falle schwerer Körperverletzung in Folge einer Quälerei hergibt: 300 Euro für schwere Schmerzen pro Tag. Zumindest einen Teil davon will er für seinen traumatisierten Mandanten herausholen. Aber genau hier beginnen die Versuche, auf den Kopf zu stellen, was bisher als Gewissheit galt: in den zwei Verfahren, die miteinander zusammenhängen, wird die Integrität des Opfers Bakary J. infrage gestellt. "Bin ich Opfer oder Täter?" fragt Bakary J. in perfektem Englisch - und möchte heulen.

Denn die Richterin am Landesgericht für Zivilrechtsachen, die für die Schadenersatzklage von Bakary J. zuständig ist, hat einen Gutachter bestellt, Norber Loimer aus Horn. Er soll sagen, ob der Gambier wirklich so traumatisiert sei, dass ihm das Geld zustehe. Loimer befasst sich stattdessen lieber seitenlang mit der Frage, warum der Afrikaner überhaupt nach Europa kam. Sein Gutachten klingt wie die Befragung eines Asylbewerbers: Ist er ein Wirtschaftsflüchtling?

Lügt er? Das Fazit des Psychiaters im September 2014: Bisherige Gutachten hätten das Vorleben des Herrn Bakary J. nicht gewürdigt, seine Aussagen seien dubios, er habe sich, obwohl Familienvater, "auf kriminelle Machenschaften eingelassen" und sei außerdem ein "extrem praktizierender Moslem". Bei der Bewertung, ob Bakary J. durch die Misshandlungen 2006 traumatisiert sei, sei dessen "kulturspezifische Einstellung" zu berücksichtigen. Heißt das, ein gambischer Muslim leidet anders als ein österreichischer Christ? Für die SZ ist der Gutachter, der sich laut Medienberichten früher für Schädelvermessungen begeisterte, nicht zu sprechen, er weilt offiziell im Urlaub.

Am 11. November wurde bekannt, dass die Richterin das Loimer-Gutachten zum Prozess zugelassen hatte. Der Anwalt von Bakary J. ist fassungslos, er will ein Gegengutachten anfordern. Aber die Sache nimmt Fahrt auf. Fast zeitgleich nämlich waren die Ex-Polizisten an die Öffentlichkeit gegangen: Sie wollen nicht mehr als "Folterpolizisten" dastehen, während Bakary J. Geld einfordere. Es geht, wie ihre Anwältin Maria Zehetbauer eindeutig einräumt, um mögliche Zahlungen: Da der Staat versuchen würde, sich den Schadenersatz von den Verurteilten zurückzuholen, kämen auf diese "exorbitante Forderungen" zu. Die Anwältin bietet einen Privatgutachter auf, der "Widersprüche" in den medizinischen Gutachten feststellt.

Selbst Wiens Landespolizeipräsident Gerhard Pürstl hält die Kehrtwende seiner ehemaligen Mitarbeiter für "unglaubwürdig". Ob die Wiederaufnahme durchgeht, wird sich erst nächstes Jahr entscheiden. Bakarys Therapeutin ist empört: Ihr Klient brauche Ruhe und Sicherheit. Er sei erkennbar "re-traumatisiert".

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