Österreich: Natascha Kampusch:Das vermeidbare Martyrium

Statt den Entführer von Natascha Kampusch anzuzeigen, hat sich Ernst H. seine Lebensbeichte angehört - nun steht er vor Gericht. Außerdem wird bekannt, dass die Polizei das Mädchen früher hätte retten können.

Michael Frank

Nichts treibt Österreicher so um wie der Fall der Natascha Kampusch. Als Kind im Jahr 1998 entführt und spurlos verschwunden, als junge Frau von 18 Jahren im August 2006 wieder aufgetaucht, gilt der spektakuläre Akt kriminalistisch als geklärt, wird aber von Gerüchten, Spekulationen und Skandalen umrankt wie kein anderer. Er war Anlass für die längste und intensivste Fahndungsaktion in Österreichs Kriminalgeschichte. An diesem Montag beginnt der Prozess gegen Ernst H., einen Freund des Entführers Wolfgang Priklopil.

3096 Tage Gefangenschaft": Kampusch ganz nah und doch fern

Ihre Entführung war Anlass für die längste und intensivste Fahndung der österreichischen Geschichte: Natascha Kampusch, hier im Dezember 2009.

(Foto: dpa)

Ernst H. wird Begünstigung vorgeworfen: Er habe nach der Flucht des Mädchens den Täter stundenlang in seinem Auto herumgefahren und sich dabei dessen Lebensbeichte angehört, statt ihn sofort der Polizei zu melden. Damit habe er dessen Festnahme verhindert. Priklopil, dem Natascha Kampusch in einem unbeobachteten Augenblick aus seinem Haus in Strasshof bei Wien entkommen war, beging gleich nach dem Gespräch Selbstmord. Er warf sich vor einen Zug der Wiener Nordbahn.

Vertuschte Fahndungspannen

Ernst H. war selbst lange Zeit im Verdacht, Mitwisser, wenn nicht gar Mittäter des Entführers gewesen zu sein, der sein Opfer acht Jahre lang in einem Kellerverlies unter seinem Haus in der Strasshofer Heinestraße gefangen gehalten hatte. Damit war die gesamte Erklärungslast dem Opfer selbst auferlegt, da sich der Täter mit dem Tod jeder Verantwortung entzog.

Ein immenser Medienrummel und die Missgunst so mancher Zeitgenossen machen der jungen Frau das Leben bis heute schwer. Immer wieder gehen Gerüchte über weitere Täter oder Mitwisser um. So ist bis heute verwirrend, warum eine damals zwar kindliche, aber sehr glaubwürdige Zeugin bis heute beharrlich von zwei Männern berichtet, die Natascha in einem weißen Kastenwagen entführt hätten.

Selbst eine Kommission unter Leitung eines früheren Verfassungsgerichtshofspräsidenten äußerte ernsthafte Zweifel an der Einzeltäterversion. Ernst H., der wohl einzige Vertraute Priklopils, galt als verdächtig, zumal er mit dem Eingeständnis, mit dem Täter noch stundenlang gesprochen zu haben, erst nach Jahren herausrückte. Private Verfolger des Falles hatten auch Nataschas Mutter im Visier, die sich gerichtlich dagegen wehrte. Erbracht hat das alles nichts.

Auf dem Prozess liegt auch ein fahler politischer Schatten. Sicher ist nämlich seit wenigen Tagen: Gleich nach dem Entkommen des Mädchens hat das Wiener Innenministerium unter Leitung der christsozialen Liese Prokop gezielt diverse Fahndungspannen vertuscht. Mit Weisungen, hierarchischem und politischem Druck wurden leitende Polizeioffiziere gehindert, Versäumnisse offen zu benennen und zu klären. Der Grund: Im Spätherbst 2006 standen Nationalratswahlen an, da passte Ministerin Prokop und ihrer Volkspartei (ÖVP) ein Polizeiskandal so gar nicht ins Konzept.

Man fiel sogar dem damaligen Chef des Wiener Bundeskriminalamtes, Herwig Haidinger, in den Rücken. Bei der gigantischen Fahndungsaktion 1998 gab es als Anhaltspunkt der Entführung fast nur den weißen Kastenwagen mit dunklen Scheiben. Einen solchen besaß Priklopil, der zweimal deswegen überprüft wurde. Ohne Ergebnis - nicht zuletzt, weil man Hinweise eines Polizeihundeführers verschlampt hatte. Der Beamte, ein guter Beobachter, hatte auf Priklopil als einen Eigenbrötler mit sexuellen Vorlieben für Kinder hingewiesen und ein, wie im Nachhinein ersichtlich, verblüffend genaues psychisches Profil geliefert.

Bittere Erkenntnis

Die Aussage wurde als "anonym" abgelegt und vergessen. Deshalb beschnupperte auch nie ein Suchhund den Kastenwagen des Täters, der sicher angeschlagen hätte. Untergebene von Haidinger weigerten sich auf Wink aus dem Kabinett der Innenministerin, die Vorwürfe sofort zu untersuchen. Später logen andere Polizeioffiziere schlichtweg, die Spur Priklopil habe es so nie gegeben, weil der Täter ein Alibi gehabt habe. Keine Rede davon. Den Zeugen suchte man zum Schweigen zu verpflichten. Er wurde gezielt ohne Protokoll vernommen, später wurde behauptet, der Zeuge selbst habe die schriftliche Einvernahme verweigert. Die Protokolle dieser skandalösen, nach Einschätzung von Juristen an offenen Amtsmissbrauch grenzenden Vorgänge veröffentlicht nun der Grünen-Parlamentsabgeordnete Peter Pilz auf seiner Internetseite.

Die bittere Erkenntnis: Natascha Kampusch wären bei beherztem Handeln die acht Jahre in Händen eines psychopathischen Mannes, der totale Gewalt über einen anderen Menschen haben wollte, erspart geblieben; außerdem wurde so das Recht des Opfers hintertrieben, über eine Amtshaftungsklage gegen die Republik Österreich wenigstens Entschädigungen zu erreichen.

Der Grüne Pilz, dessen Partei in Opposition zur SPÖ/ÖVP-Koalition in Wien steht, vermerkt erbost: "Das Grundproblem ist, dass die ÖVP ihr Wohl über das Wohl des Opfers stellt." Sollte nachgewiesen werden, dass Sach- und Personalentscheidungen nach parteipolitischen Erwägungen gefällt wurden, müsse das künftig strafrechtliche Konsequenzen haben. Pilz war es auch, der Innenminister Ernst Strasser, Prokops Vorgänger, nachgewiesen hat, Besetzungen im Sicherheits- und Verwaltungsapparat rein parteipolitisch getroffen oder beeinflusst zu haben. Die Staatsanwaltschaft hat ein 150-Seiten-Konvolut darüber "vergessen", bis alles verjährt war.

Konsequent, dass Haidinger, der Chef der Kripo, der damals alles korrekt geklärt wissen wollte, später auf unbedeutende Posten abgeschoben wurde. In Österreich ist man gespannt, ob und was von alledem im Prozess gegen Ernst H. zur Sprache kommen wird.

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