Attentäter vor Gericht:Norweger fürchten den Prozess gegen Breivik

Aufarbeitung eines Albtraums: Vor dem heute beginnenden Prozess gegen Anders Breivik haben viele Norweger Angst - vor allem Überlebende und Angehörige der Opfer quält die andauernde Konfrontation mit dem Täter. Wie viel soll oder muss von den Aussagen des Attentäters in den kommenden zehn Wochen an die Öffentlichkeit gelangen? Die Norweger sind gespalten.

Gunnar Herrmann, Oslo

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätten inzwischen auch die Medien genug von Anders Behring Breivik. Am Wochenende vor dem Beginn des Prozesses in Oslo ist der Täter von den Titelseiten der Zeitungen nahezu verschwunden. Die Überschriften handeln von steigenden Wohnungspreisen, Sportereignissen und Fitness-Tipps. Doch im Inneren der Blätter sind seitenlange Reportagen über Anschlagsopfer, Polizeiermittlungen und die Psyche des Massenmörders.

An exterior view of the Oslo Courthouse

Vor dem Gerichtsgebäude in Oslo stehen seit Tagen dicht gedrängt die Übertragungswagen der Fernsehsender bereit, einige haben mit Zeltplanen und Podesten Behelfsstudios aufgebaut.

(Foto: dpa)

Vor dem Gerichtsgebäude kann man erahnen, was auf die Norweger zukommt. Seit Tagen stehen auf dem Platz vor dem Haupteingang dicht gedrängt die Übertragungswagen der Fernsehsender bereit, einige haben mit Zeltplanen und Podesten Behelfsstudios aufgebaut. Der staatliche Rundfunk NRK will während des Prozesses, der an diesem Montag beginnt und etwa zehn Wochen dauern soll, täglich mehrere Stunden live berichten. Es wird kaum möglich sein, einen Fernseher anzuschalten oder an einem Zeitungsstand vorbeizugehen, ohne irgendetwas über Breivik zu erfahren.

Wie soll man damit umgehen? Diese Frage stellen sich viele Norweger. NRK hat eine eigene Webseite für Eltern eingerichtet, auf der Experten Tipps geben, wie man seinen Kindern erklärt, was da vor sich geht. Unter anderem wird empfohlen, seinen Kindern zu versichern, dass Breivik hinter Schloss und Riegel ist - und es auch bleiben wird.

Besonders schwierig werden die kommenden zehn Wochen aber für die Überlebenden der Anschläge und die Angehörigen der insgesamt 77 Todesopfer. Der rechtsextreme Attentäter Breivik hatte am 22. Juli zunächst eine Bombe im Osloer Regierungsviertel gezündet und dann auf der Ferieninsel Utøya in einem Zeltlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF 69 Menschen erschossen. Breivik hat die Taten gestanden, Reue zeigte er bislang nicht. Unklar ist die Frage, ob er zurechnungsfähig oder geisteskrank ist - zwei psychiatrische Gutachten sind zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Nun entscheiden die Richter.

"Der Täter richtet noch mehr Schaden an"

Ministerpräsident Jens Stoltenberg, zugleich Parteivorsitzender der Sozialdemokraten, sagte am Freitagabend in einem Fernsehinterview, er fürchte, dass die Eindrücke vor allem für manche der überlebenden jüngeren Opfer so massiv werden, dass dadurch ihr Leben noch weiter zerstört wird. "Dann richtet der Täter noch mehr Schaden an, als er es schon getan hat." Er empfiehlt, sich dem Geschehen nicht zu sehr auszusetzen.

Breivik wird von Dienstag an mehrere Tage lang im Zeugenstand stehen und dort seine Motive für den Massenmord erläutern. Er plant, den Auftritt für rechtsextreme Propaganda zu nutzen. Der norwegische Presseverband hatte bis zuletzt darum gekämpft, dass Breiviks Aussage im Fernsehen übertragen werden darf. Am Freitagnachmittag lehnte das oberste Gericht diesen Antrag ab. Von den meisten Überlebenden wurde die Entscheidung mit Erleichterung aufgenommen. Doch es gibt auch Gegenstimmen.

Ali Esbati etwa findet die Einschränkung "bedauerlich". Der junge Schwede arbeitet als Politikberater bei der Linkspartei. Er war am 22. Juli Gast auf Utøya und überlebte das Massaker nur knapp, indem er sich ins Wasser rettete. Die politische Erklärung des Terroristen sei ein "Dokument der Gegenwart, über das zu reflektieren wichtig ist", schrieb Esbati in einem Artikel für die schwedische Zeitung Aftonbladet. Seiner Meinung nach entspringen Breiviks Äußerungen einer "Ideenwelt, die noch von vielen anderen bevölkert wird", und damit müsse man sich auseinandersetzen. Nur so könne die Gesellschaft aus dem 22. Juli lernen.

Eskil Pedersen, Chef der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF, deren Zeltlager Hauptziel der Anschläge war, beschrieb die Stimmung unter den Überlebenden so: "Die Betroffenen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Einige wollen sich abschirmen, um sich auf Schule und Arbeit zu konzentrieren. Andere wünschen möglichst viel vom Prozess mitzubekommen, um Ruhe zu finden."

Pedersen rief dazu auf, sich gegenseitig beizustehen, so wie damals bei den Rosenmärschen direkt nach den Anschlägen. "Liebes Norwegen, jetzt brauchen wir dich wieder", schrieb er. "Wir brauchen die Mitmenschlichkeit, das Engagement und den Zusammenhalt, den wir einander nach dem Terror im vergangenen Jahr gezeigt haben." Man müsse sich auf das Gute konzentrieren, nicht auf das Böse. Leicht wird das nicht werden, wenn Breivik wieder die Titelseiten füllt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: