Norwegens Behörden in der Kritik:Verhängnisvolles Chaos am Terrortag

Als das Grauen in Gestalt von Anders Breivik über Norwegen hereinbrach, sollen die Behörden des Landes teilweise versagt haben: Von schlechter Kommunikation zwischen den Polizeiinspektionen ist im Nachhinein die Rede. Und von Rettungskräften, die abwarteten, anstatt einzugreifen. Norwegens Justizminister will jedoch nicht von Fehlern sprechen.

Gunnar Herrmann

Es ist, als würde 22. Juli niemals enden. Knapp vier Monate nach den Terroranschlägen versucht Norwegen noch immer zu begreifen, was an jenem Freitag in den Sommerferien eigentlich geschah. Das ist nicht leicht. Zwar wird der Ablauf der Ereignisse immer wieder minutiös in den Medien dargestellt. Doch je mehr Details über die Attentate und den Einsatz von Polizei und Rettungsdiensten bekannt werden, desto mehr Fragen scheint es zu geben.

Norwegens Behörden in der Kritik: Die Küste des Ferienortes Sundvollen, gegenüber der Insel Utøya, gleicht nach den Anschlägen am 22. Juli einem Blumenmeer. Auch von dort aus starteten am Terrortag Urlauber mit Booten, um von der Insel flüchtende Jugendliche aus dem Wasser zu retten.

Die Küste des Ferienortes Sundvollen, gegenüber der Insel Utøya, gleicht nach den Anschlägen am 22. Juli einem Blumenmeer. Auch von dort aus starteten am Terrortag Urlauber mit Booten, um von der Insel flüchtende Jugendliche aus dem Wasser zu retten.

(Foto: AP)

Vor allem die Opfer und die Angehörigen der Toten verlangen nun Aufklärung. Damit wächst der Druck auf die Regierung. Am Donnerstag wurde Justizminister Knut Storberget deshalb bereits vor das Parlament zitiert. Es war kein glanzvoller Auftritt.

Von Fehlern will der Minister nicht sprechen

Eine gute halbe Stunde lang beschrieb der Minister ausführlich die chaotischen Ereignisse am Terrortag. Er erzählte von Polizeiinspektionen, die nicht richtig miteinander kommunizieren konnten, weil sie unterschiedliche Funksysteme nutzten. Er berichtete, dass es bis heute unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wann der Attentäter Anders Behring Breivik eigentlich genau auf Utøya festgenommen wurde - die Osloer Polizei protokollierte 18.27 Uhr, die lokale Polizei in Buskerud dagegen 18.34 Uhr.

Doch Worte wie "Fehler", "Verantwortung" oder gar "Schuld" vermied er tunlichst. Man müsse die Umstände berücksichtigen, betonte der Minister, alles in allem sei das doch ein "hervorragender Einsatz" gewesen. "Niemandem ist gedient mit übereilten Schlussfolgerungen."

Viele Norweger haben sich mehr erwartet. Denn die Debatte um die Versäumnisse der Behörden ist längst in vollem Gange. Immer fordernder wird in den Medien gefragt, ob nicht zumindest einige der insgesamt 77 Morde hätten verhindert werden können, wenn die Behörden an jenem Freitag besser funktioniert hätten.

Wieso zum Bespiel wurde der Terrorist Breivik nicht schon nach dem Bombenanschlag im Regierungsviertel gestoppt, bevor er auf der Insel Utøya im Sommercamp der sozialdemokratischen Nachwuchsorganisation AUF 69 Menschen erschoss? Weshalb hatten die Terrorspezialkräfte am 22. Juli keinen Helikopter zu Verfügung? Warum mussten die Polizisten in einem winzigen Gummiboot zur Insel übersetzen?

Retter als Richter über Leben und Tod

Einer von denen, die nun Antworten fordern, ist Sjak Haaheim. Der Rechtsanwalt vertritt 24 Menschen, die am 22. Juli Urlaub am Tyrifjord-See machten, darunter auch fünf Kinder im Alter von zehn bis zwölf Jahren. Die Leute waren Gäste auf dem Campingplatz Utvika, direkt am Ufer. Mitten in die Familienidylle platzte der Terror.

"Ein Klient hat es treffend beschrieben: Seine größte Sorge an jenem Nachmittag war die Frage, ob er Kotelett oder Hühnchen grillen soll. Ein paar Augenblicke später entschied er über plötzlich über Leben und Tod", sagt Haaheim.

Die Boote waren nicht groß genug für alle

Als auf Utøya die Schießerei begann, flüchteten viele Jugendliche in den See. Die Leute vom Campingplatz reagierten rasch: Sie sprangen in ihre Boote und retteten, wen sie konnten, obwohl Breivik auf sie feuerte. Doch die Boote waren nicht groß genug für alle. Während die Kugeln ins Wasser klatschten, mussten die Retter auswählen: Du kannst mit. Du musst schwimmen.

Währenddessen parkten am Ufer Rettungswagen in einer langen Reihe. Und taten erst einmal nichts. Irgendjemand - bis heute ist unklar, wer - hatte den Sanitätern den Befehl erteilt, abzuwarten, um nicht in die Schusslinie zu geraten. Nicht einmal zur Anlegestelle des Zeltplatzes kamen die Rettungskräfte sofort, obwohl die Camper dort ständig neue Verletzte an Land brachten.

Wegen der traumatischen Erlebnisse sind einige der Sommerfrischler bis heute krankgeschrieben. "Meine Mandanten haben die Aufgaben des Staates übernommen - in einer Situation, als der Staat seinen Job nicht gemacht hat", sagt Haaheim.

Antworten könnte die 22.-Juli-Kommission liefern, welche die Regierung knapp drei Wochen nach den Anschlägen eingesetzt hat. "Alle Fakten müssen auf den Tisch", versprach Ministerpräsident Jens Stoltenberg damals. Ende nächsten Jahres wird das Expertengremium seinen Bericht vorlegen. Der wird nicht nur vom Einsatz am 22. Juli handeln, sondern auch den Fragen nachgehen, ob die Sicherheitsvorkehrungen im Regierungsviertel und auf Utøya ausreichend waren, und warum der rechtsextreme Breivik Polizei und Geheimdiensten nicht schon früher aufgefallen ist.

Das Geschehene verstehen, um es zu verarbeiten

Mette Yvonne Larsen hofft außerdem, dass die Wahrheit auch ein paar Wunden heilen kann. "Der Justizminister hat den Einsatz vom 22. Juli ein wenig vorschnell gelobt", meint die Rechtsanwältin, die 40 Opfer der Anschläge vertritt. Darunter Eltern, deren Kinder ermordet wurden, und Jugendliche, die bei der Schießerei lebenslange Schäden davongetragen haben.

Larsen hatte schon wenige Wochen nach den Anschlägen Kritik am Polizeieinsatz geübt. Damals rief der Justizminister sogar persönlich bei ihr an und mahnte zur Zurückhaltung. Man dürfe nicht öffentlich über die Retter herziehen, meinte er. Aber Larsen ließ sich nicht einschüchtern: "Ich muss diese Dinge aussprechen, weil meine Mandanten das selbst nicht können. Die sind zu sehr mit ihrer Trauerarbeit beschäftigt."

Doch je länger die Vergangenheitsbewältigung sich hinzieht, desto schwerer wird es für die Opfer, einen Schlussstrich zu ziehen. "Für meine Mandanten ist es vor allem wichtig, dass sie das Geschehene verarbeiten. Aber dazu muss man zunächst verstehen, was eigentlich passiert ist", sagt Larsen. Um Schuldzuweisungen gehe es dabei gar nicht. "Wenn jemand an diesem Tag Fehler gemacht hat, wird man das sicher verzeihen können. Aber dazu müsste eben erst einmal jemand vortreten und sagen: Ja, ich habe einen Fehler gemacht."

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