Norwegen:Ein ganzes Dorf steht unter Verdacht

Norwegen: In der kleinen nordnorwegischen Gemeinde Tysfjord leben nur knapp 2000 Menschen.

In der kleinen nordnorwegischen Gemeinde Tysfjord leben nur knapp 2000 Menschen.

(Foto: AFP)
  • In der kleinen Gemeinde Tysfjord in Nordnorwegen kam es in den vergangenen sechs Jahrzehnten zu geschätzt 151 sexuellen Missbrauchsfällen.
  • Der Großteil der Fälle ist verjährt, viele der Opfer wurden nicht angehört - oder vertrauten den Behörden nicht.
  • Täter und Opfer sollen in den meisten Fällen Angehörige der Samen, des indigenen Volkes in Skandinavien gewesen sein.
  • Die Polizei hat sich nun entschuldigt, dass sie so lange untätig war.

Von Silke Bigalke, Stockholm

In der Zeitung wird sie "Liv" genannt. Das Foto zeigt nur ihren Rücken, ihre Geschichte zeigt das Versagen einer ganzen Gesellschaft.

Liv ist in Nordnorwegen aufgewachsen, in einem kleinen Ort am Fjord. Als sie 14 war, zeigte ein Lehrer Livs Vater an. Der Mann hatte die eigene Tochter und weitere Mädchen sexuell missbraucht. Die Polizei kam mit dem Boot, Livs Vater musste später für viereinhalb Jahren ins Gefängnis. Was sie lange niemandem erzählt hat: Danach wurde es nur noch schlimmer. Denn als der Vater weg war, wurde Liv im Dorf zum "Freiwild", insgesamt elf andere Männer hätten sich an ihr vergangen. Zehn Jahre ging das so, bis Liv erwachsen war. Die Tageszeitung Verdens Gang hat mit weiteren Opfern gesprochen, alle aus derselben Gemeinde, alle sind missbraucht und einige vergewaltigt worden. Der Artikel erschien im Sommer 2016 unter dem Titel "Ein dunkles Geheimnis".

Wie dunkel, das erfahren die Norweger erst jetzt, anderthalb Jahre später. Die Polizei hat in Tysfjord ermittelt, so heißt die Kommune am gleichnamigen Fjord, 2000 Einwohner. Die Ermittler gehen von 151 Fällen sexuellen Missbrauchs aus, darunter 43 Vergewaltigungen. Sie zählten 82 Opfer, das jüngste war vier, das älteste 75 Jahre alt, doch die meisten waren minderjährige Mädchen. Unter den mutmaßlich 92 Tätern sind auch drei Frauen, die angeben, selbst missbraucht worden zu sein. Zwei Drittel der Fälle sind verjährt, der älteste liegt 64 Jahre zurück. Auch Liv ist heute über 30 Jahre alt. In Norwegen fragt man sich nun, wie das passieren konnte. Und warum niemand eingegriffen hat.

Die meisten Täter und ihre Opfer sollen Samen gewesen sein

Tysfjord liegt in Nordnorwegen. Die 2000 Einwohner verteilen sich auf mehrere Dörfer, die zur Gemeinde gehören, zwischen ihnen liegen vor allem Wasser und Felsen, Oslo ist 1000 Kilometer entfernt, Luftlinie. Obwohl der Fjord beliebt ist bei den Touristen, leben die Menschen hier abseits. Das Dorf, in dem die Zeitung recherchiert hat, heißt Drag. Viele der Bewohner sind Samen, gehören zum indigenen Volk Skandinaviens. Auch die meisten Täter und ihre Opfer sollen der Polizei zufolge Samen gewesen sein, gleichzeitig streng gläubige Protestanten, Laestadianer. Diese Mischung, so hat es die Polizei angedeutet, ist die Erklärung für das Schweigen.

Lars Magne Andreassen, Direktor des Kulturzentrums der Samen in Tysfjord, sagt, er habe seit Jahren von dem Problem gewusst. In seinem Zentrum habe es Ausstellungen und Seminare zum Thema sexueller Missbrauch gegeben, und Unterstützung für diejenigen, die das Schweigen brechen wollten. Die Zahlen der Polizei seien trotzdem ein Schock für ihn gewesen. Sein Gefühl beschreibt Andreassen als Mischung aus Schmerz und Stolz. Schmerz angesichts der tragischen Schicksale einiger Opfer. Und Stolz, weil sie an die Öffentlichkeit gegangen sind, endlich.

"Sie haben den Behörden nicht vertraut"

Warum haben sie so lange geschwiegen? "Sie haben den Behörden nicht vertraut", sagt der Direktor des Kulturzentrums. Norwegen hat lange versucht, die Samen zu "norwegisieren", ihnen Kultur, Sprache und Land zu nehmen. Hinzu komme, sagt Lars Magne Andreassen, dass die Polizei taub war gegenüber denen, die sich vielleicht doch vorgewagt haben.

"Wir haben gelernt, uns zu schämen, dass unsere Kultur nichts wert sei, unsere Sprache nicht brauchbar." Offen reden über sexuellen Missbrauch? Die Menschen hätten Angst gehabt, dass man wieder nur auf sie herunterschaut, sagt Andreassen.

Die zweite Erklärung liegt in der Religion. Viele Menschen in Tysfjord sind oder waren Laestadianer. Deren Begründer, Lars Levi Læstadius, fühlte sich im 19. Jahrhundert dazu berufen, die Samen zum christlichen Glauben zu bekehren. Bis heute gehören viele Samen in Finnland, Schweden und Norwegen dieser sehr konservativen Strömung des Luthertums an, auch wenn deren Bedeutung abnimmt.

In Tysfjord hat ihr Glaube offenbar dazu geführt, dass Täter und Betroffene lieber zur Beichte gegangen sind als zur Polizei. Diese habe "keinen Grund anzunehmen, dass die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk oder einer Glaubensrichtung eine Erklärung für den Missbrauch ist", sagte Kommissarin Tone Vangen auf einer Pressekonferenz zu den Ermittlungen. Sie sagte jedoch auch, dass die "Mechanismen" in dieser Gemeinde es "erschwert haben, dass die Dinge bekannt geworden sind".

Niemand griff ein

Es ist also eine Mischung aus geschlossener Gesellschaft, den Folgen von Diskriminierung, von Familienbanden und Pietismus, die das Problem verstärkt haben. Es ist die Geschichte von großer Angst in einer kleinen Gemeinde. Die Opfer, die die Zeitung vergangenes Jahr interviewt hat, sprachen von Scham, Schmerz, von schwerem Schaden und davon, dass die Erwachsenen gewusst hätten, was vor sich geht. Doch niemand griff ein.

Eine Frau erzählte, dass sie dem Pfarrer von dem Missbrauch berichtet habe - und der nur fragte, ob es ihr gefiel. Ihr werde heute noch schlecht, wenn sie daran denke. Eine andere Frau berichtet, wie der Prediger sie gewarnt habe, zur Polizei zu gehen. Das war einfach nicht der Weg, wie man die Dinge regelte, damals am Fjord.

"Es ist nicht so, dass erst die Zeitung das alles aufgedeckt hat", sagt Lars Magne Andreassen. Es sei die Samische Gemeinde gewesen, die Einwohner, "die es satthatten, dass ihnen nicht zugehört wird".

Die Polizei hat sich nun entschuldigt, dass sie so lange untätig war. Mehr als hundert Fälle musste sie fallen lassen, die meisten wegen Verjährung. Nur zwei mutmaßliche Täter sind bislang angeklagt worden.

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