Neue Studien:Keine Kinderüberraschung

Allen Kinderwagen in Berlin-Mitte zum Trotz: Die Deutschen werden weniger. Das stellt vor allem die Wirtschaft bald vor Probleme.

Von Max Scharnigg, Hamburg

Die Kinderwagen-Schwemme in urbanen Biotopen wie Schwabing und Berlin-Mitte trügt. Gleich mehrere Studien bescheinigen Deutschland in diesen Tagen akut mangelhafte Bemühungen in Sachen Fortpflanzung. Die hiesige Geburtenrate belege mittlerweile im weltweiten Vergleich den letzten Platz, zu diesem Ergebnis kommt etwa eine Langzeitstudie der Wirtschaftsprüfer BDO und des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts. Danach wurden in den vergangenen fünf Jahren im Durchschnitt nur 8,3 Kinder je 1000 Einwohner geboren. Dieser Wert läge unter dem Niveau des bisherigen Schlusslichts Japan von 8,4.

Dem kinderarmen Deutschland könnten schon in 15 Jahren Millionen Arbeitskräfte fehlen

Letzter! Allen Beschwörungen der Politik und den zuletzt dezent nach oben zeigenden Geburtenzahlen zum Trotz. Bei den europäischen Nachbarn schneiden nur Portugal (8,9) und Italien (9,2) ähnlich schlecht ab. Große EU-Länder mit vergleichbaren Wirtschaftsdaten haben dagegen deutlich höhere Geburtenraten: Frankreich und Großbritannien kommen im gleichen Zeitraum auf durchschnittlich 12,7 Geburten je 1 000 Einwohner, auch die USA sind mit 12,9 Kindern weit voraus.

Newborn Stefan rests with mother Heinrich in delivery room of Fuerstenfeldbruck hospital

Zwar steigt die Zahl der Neugeborenen wieder etwas, für eine signifikante Wende beim Bevölkerungsschwund wird das aber nicht reichen.

(Foto: Michaela Rehle/Reuters)

Meinungsforscher und Essayisten suchen seit Jahren die Gründe für die Reproduktionsträgheit der Deutschen und erfinden dabei jede Menge neuer Begriffe: die Vereinbarkeitslüge, die Erwartungsfalle oder der Niedergang der Versorgungsehe könnten schuld sein. Am Nachwuchsmangel ändern diese Vermutungen allerdings genauso wenig wie die knapp 200 Milliarden Euro, die vom Staat für Familienförderung eingesetzt werden.

Den Ökonomen bereiten die Auswirkungen der neuen Zahlen auf die Arbeitswelt große Sorgen. Zeitgleich mit der Studie des HWWI veröffentlicht die Boston Consulting Group eine Prognose für die nächsten Jahrzehnte, die den alarmierenden Titel "Die halbierte Generation" trägt. Dem kinderarmen Deutschland könnten demnach schon in 15 Jahren 5,8 bis 7,7 Millionen Arbeitskräfte fehlen. "Wenn wir nichts dagegen unternehmen, steht das deutsche Wirtschaftswachstum auf dem Spiel und letztlich auch unser Wohlstand", lässt sich Rainer Strack, Autor der Studie, zitieren.

Die Personalabteilung eines ganzes Landes schlägt also Alarm, der längst festgestellte demografische Wandel wächst sich in den neuen Prognosen zum demografischen Wanken aus. Selbst der Zuzug von jungen Arbeitskräften aus dem Ausland könnte die entstehenden Lücken nicht füllen, sind sich die Forscher einig. Auch wenn die Großstädte derzeit punktuelle Babybooms vermelden und ein junger Bezirk wie Berlin-Friedrichshain in den letzten Jahren mit einer vorbildlichen Geburtenrate von etwa 12 Kinder pro 1000 Einwohner glänzte - es sind insgesamt zu wenig. Und in den Städten profitieren die Kreissäle wohl auch von einem anderen demografischen Trend: Der Entsiedelung ländlicher Regionen, die ebenfalls messbar voranschreitet. Der Deutsche der Zukunft wird tendenziell ein Stadtkind sein - und seltener als heute.

Aktuelles Lexikon: Geburtenrate

Der Begriff entstammt der Demografie und wird im allgemeinen Sprachgebrauch nicht immer trennscharf verwendet. Gemeinhin bezeichnet die Geburtenrate die Anzahl der Lebendgeborenen pro Jahr bezogen auf 1000 Einwohner eines Gebiets. Bevölkerungswissenschaftler sprechen auch von "rohen Geburtenraten". Anders als bei sogenannten Fertilitätsraten werden Geburten hier nicht auf Frauen im gebärfähigen Alter (15 bis 49 Jahre), sondern auf die gesamte Bevölkerung bezogen, wodurch auch Personen berücksichtigt werden, die keine Kinder bekommen können, also Männer oder sehr junge und ältere Frauen. Der Vorteil der rohen Geburtenrate liegt in ihrer einfachen Berechenbarkeit und dem geringen Datenaufwand. Sie eignet sich insbesondere, um Altersstruktureffekte sichtbar zu machen, also aufzuzeigen, wie die Zusammensetzung der Gesellschaft Einfluss auf das Geburtenverhalten hat. So gab es in den 80er- und 90er-Jahren besonders viele Geburten, da die Babyboomer ins Elternalter gekommen waren. Der Trend, dass die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau sinkt, konnte damals noch verhältnismäßig gut ausgeglichen werden. Derzeit sind jedoch die geburtenschwachen Jahrgänge im Elternalter, weswegen deutlich weniger Eltern nachrücken. Derzeit kommen in Deutschland etwa 8,2 Neugeborene auf 1000 Einwohner. Nirgendwo kommen weniger Kinder zur Welt. Ulrike Nimz

Denn das Statistische Bundesamt vermeldet schon seit Jahren die maßgebliche Tatsache: Es sterben mehr, als geboren werden. Deutschland schrumpft so jedes Jahr um etwa 200 000 Einwohner. Das wird sich in den nächsten Jahrzehnten kaum ändern. Je nach Zuwanderung könnte es bis 2050 demnach nur noch 65 Millionen Deutsche geben.

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