Natascha Kampusch:Schrecken mit offenem Ende

Die Polizei stellt die Ermittlungen im Fall Kampusch ein - doch die Hintergründe der Entführung bleiben unklar

Michael Frank

Das düstere Haus in der Heinestraße in Strasshof soll "kein Gruselobjekt" werden. So jedenfalls wünscht es sich Natascha Kampusch, die Jahre lang in einem verliesartigen Raum unter der Garage dieses Hauses nahe der österreichischen Hauptstadt Wien zubringen musste, eifersüchtig bewacht von ihrem Entführer, dem Fernmeldetechniker Wolfgang Priklopil.

Die junge Frau von 18 Jahren, die am 23. August dieses Jahres nach acht Jahren Gefangenschaft hatte entkommen können, will nicht, dass dieses Haus irgendwelchen Sensationsmachern anheimfällt. Es soll hier keine Gruselshow stattfinden, die Neugierigen vielleicht sogar gegen Eintritt vorgeführt würde.

Natascha Kampusch, die als Zehnjährige entführt worden war und wie aus dem Nichts als eine wohlformulierende, bei allen Sinnen befindliche junge Frau wieder aufgetaucht ist, will sich gar mit der Mutter des Täters darüber einigen.

Denn dass das Haus angesichts der Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche, die sich aus Nataschas Leidenszeit ergeben, dem Opfer zufallen wird, steht außer Frage. Eine Stiftung steht in Gründung, die sich dieser Dinge annehmen soll.

Die österreichischen Ermittlungsbehörden halten den Fall Kampusch, einen der spektakulärsten und mysteriösesten der Kriminalgeschichte des Landes, für erledigt. Die Ermittlungsarbeit wurde nach Auskunft von Polizei und Innenministerium beendet. Ob die Akte endgültig geschlossen wird, soll die Staatsanwaltschaft noch diese Woche entscheiden.

Und doch scheint bei alledem in Österreichs Gesellschaft ein gewisses Unwohlsein darüber spürbar zu sein, niemals die wahren Hintergründe, Motive und Abläufe zu erfahren, die der aberwitzigen Gefangenschaft und den verzweifelten, stets vergeblichen Versuchen, den Fall zu klären, zu Grunde liegen.

All die acht Jahre lang ist mit allen Mitteln der Kriminaltechnik, der Täterpsychologie, der Fahndungserfahrung geforscht worden. Dass nichts davon zum Erfolg geführt hat, haben die Ermittler hinterher als die Folge eines eklatanten Fehlschlusses erklärt, für den niemand verantwortlich gemacht werden kann: Nachdem das gesuchte, auf dem Schulweg verschwundene Kind wochen- und monatelang nicht wieder aufgetaucht war, hat man nur mehr nach einer Toten gesucht.

Niemand mochte glauben, dass sich das Mädchen in Gefangenschaft befände. Nach einer Lebenden zu suchen, mit der also andere Menschen, zumindest der Entführer in ständigem Kontakt stehen, erfordert aber eine ganz andere kriminalistische Strategie als die Suche nach einer Leiche. Da halfen auch die 2000 verfolgten Verdachtsfälle nichts, die 1500 Überprüfungen von Menschen, denen ein weißer Kombiwagen gehörte - denn als ein solcher war das Täterfahrzeug identifiziert worden. Der Schuldige war unter den Überprüften. Und noch am Tag vor ihrer Flucht ist nach Nataschas Leiche gegraben worden.

Auch das größte Rätsel, die Motive und Absichten des Täters, werden ganz ungeklärt bleiben. Wolfgang Priklopil hat sich sofort nach dem Entschwinden seines Opfers das Leben genommen. So hatte er es ihr selbst angekündigt, als eines der Mittel seiner Angststrategie, mit der er das Kind gefügig halten wollte.

Psychologen erklären, dass dieser Mann sich eine Kreatur nach völlig eigener Vorstellung bilden wollte, einen Menschen nach seinem Wunsch, wohl auch deshalb, weil er mit eigenständigen Persönlichkeiten als Partnern nicht zurecht kam. Dass es einen zweiten Täter, Mitwisser, Helfer gegeben haben könnte - einige Anzeichen, auch eine bedeutsame Zeugenaussage deuteten darauf hin - ließ sich nicht erhärten, erklärt die Polizei.

Der ungeheure Medienrummel, den es um den Fall gab, ist inzwischen weithin abgeebbt. Kluge Äußerungen der jungen Frau in Fernsehen und Druckmedien forderten nicht nur das Publikum, sondern auch Fachleute zu Äußerungen höchsten Erstaunens und Respekts heraus, wie ein in einem winzigen Loch gefangener junger Mensch sich selbst so bilden und heranziehen könne.

Auch verbat sich Natascha Kampusch spekulatives Stochern in intimen Details. Bis heute ist die frische junge Frau eine moderne Sphinx geblieben, ein von Geheimnis umwehtes Wesen. Sie sucht sich nun einen möglichst normalen Platz in einer möglichst normalen Welt. Ob ihr das gelingt, wird auch davon abhängen, ob man sie in Ruhe lässt.

Doch Natascha Kampusch hat schon jetzt für eine zweite Überraschung gesorgt: Sie hat sich gegenüber den vielen Anfechtungen in der ungewohnten Freiheit standhafter gezeigt, als zu erwarten war. Zumal sie diejenigen, denen sie als Schutzbefohlene nach ihrer Selbstbefreiung zugewiesen war, weithin nicht so zu schützen vermochten, wie es ihr Amt gewesen wäre.

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