Nach der Flut:Indische Bunkermentalität

Die Koordination ist mangelhaft, es fehlt am Überblick — doch die Regierung in Delhi lehnt einen internationalen Krisenstab ab.

Von Manuela Kessler

Es ist ein heilloses Durcheinander. Ambulanzen, Lastwagen voller Hilfsgüter, Ochsenkarren beladen mit Wassertanks und Schiebewagen, auf denen sich Kochutensilien türmen, verstopfen die Straßen.

Berge von Kleidern, die Hilfswerke in Eile verteilt haben, sind da und dort im Straßengraben gelandet. Beige Schachteln, die Reisrationen enthalten, liegen in manchen Dörfern an der südindischen Ostküste am Boden, während Bewohner anderer über Hunger klagen.

73.000 Obdachlose haben Zuflucht in den Auffanglagern gefunden, welche die indische Regierung in den Schulen, Gemeindezentren und Tempeln von Nagapattinam eingerichtet hat, dem Hauptort jenes Distrikts, der die Mehrheit der amtlich ausgewiesenen Flutopfer Indiens zu beklagen hat: 8000 Tote.

Großflächige Impfaktion

Die Menschen stehen Schlange vor Kleinbussen, die das Kinderhilfswerk Unicef mobilisiert hat für eine großflächige Impfaktion gegen Masern und Tetanus. Die Situation in Tamil Nadu ist "anständig," wie der Unicef-Einsatzleiter Vinod Chandra Menon sagt.

2237 Wassertanks, 170.000 Salzrationen und drei Millionen Chlortabletten, 30000 Schlafmatten und 40.000 Leintücher sind bereits verteilt worden, Nachschub ist unterwegs.

An gutem Willen mangelt es nicht in Nagapattinam, das 300 Kilometer südlich von Chennai (Madras) liegt, der Hauptstadt des Bundesstaats. Die erste Hilfe erreichte den von haushohen Wellen geschlagenen Küstenstreifen bereits in der Nacht nach der Katastrophe, nun arbeiten Tausende Helfer in Khaki im regionalen Krisenzentrum rund um die Uhr.

Die indische Armee ist im Großeinsatz. Reiche Geschäftsleute aus Mumbai und Bangalore senden Konvois voller Lebensmittel ins Krisengebiet. Eine US- Software-Firma hat ein Informationssystem eingerichtet, und doch ist die Koordination der Hilfe noch mangelhaft. Niemand scheint den Überblick zu haben, wer was wohin liefert.

Hilfe nur unter indischer Leitung

Der Unicef-Einsatzleiter spricht diplomatisch von "Herausforderungen und Schwierigkeiten". Die Zeitung Indian Express macht die "Bunkermentalität" der eigenen Regierung für die "skandalösen Verhältnisse" verantwortlich. Delhi will nichts von einem internationalen Krisenstab wissen, aus Angst, das Milliardenvolk könnte Unabhängigkeit einbüßen. Die ausländischen Hilfswerke dürfen helfen, aber nur unter indischer Leitung.

Die Andamanen und Nikobaren, jene indische Inselgruppen, die vor der burmesischen Küste liegen, bleiben weitgehend verbotener Boden für Helfer und Journalisten. Lediglich auf der Hauptinsel dürfen sie sich bewegen, wo aufgebrachte Flüchtlinge die indische Regierung beschuldigen, das Ausmaß der Not herunterzuspielen.

Weder Wasser noch Essbares sei mehr auf den total überschwemmten Inseln im Süden zu finden, und keine Hilfslieferungen hätten die Überlebenden erreicht, berichten die Evakuierten.

Das Internationale Rote Kreuz befürchtet, dass auf den Andamanen und Nikobaren allein 30.000 Menschen vermisst werden, fast ein Zehntel der Bevölkerung. Der Polizeichef des Gebiets geht von 10.000 Toten und Vermissten aus, die indische Regierung von 6500. Die meisten Eingeborenen haben die Wellen im Dschungel angeblich überlebt.

Einzig der größte Stamm der Nikobaresen hat der Küstenwache zufolge viele Tote zu beklagen. Die indische Armee hat die Evakuierung abgeschlossen. Die Soldaten widmen sich jetzt vorrangig der Bergung der Leichen. "Die Rettungsmannschaften arbeiten sich schrittweise vor", erklärt der verantwortliche General Basudev Rao. "Sie folgen dem Gestank der Verwesung in den Dschungel."

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