Nach dem Beben:Leichen, Trümmer und Verzweiflung

Im geteilten Kaschmir graben die Angehörige mit bloßen Händen im Schutt nach Angehörigen.

Manuela Kessler

Eine Ahnung vom Ausmaß der Katastrophe bekommt man aus der Luft. Dort, wo am Fuße des Himalaja einst Bauerndörfer standen, zeigen Luftaufnahmen nur noch schmutzige, braune Flecken. Die Häuser aus gestampfter Erde haben sich bei den schweren Erdstößen in Staub aufgelöst. Die Zugangsstraßen zur Waffenstillstandslinie in Kaschmir sind verschüttet. Die Erdstöße, die eine Stärke von etwa 7,7 auf der Richterskala erreichten, waren entlang des gesamten Hindukusch-Gebirges zu spüren, von der afghanischen Hauptstadt Kabul bis in die rund 1000 Kilometer entfernte indische Metropole Neu-Delhi. Seinen Ursprung hatte das Beben aber unweit von Muzaffarabad, dem Hauptort des pakistanischen Teils von Kaschmir.

Trauernde Kaschmiris in Baramulla, rund 57 kilometers nördlich vom indischen Srinagar

Trauernde Kaschmiris in Baramulla, rund 57 kilometers nördlich vom indischen Srinagar

(Foto: Foto: AP)

Die Stadt, die etwa 125.000 Einwohner zählt und rund 95 Kilometer nordöstlich der pakistanischen Hauptstadt Islamabad liegt, war auch am Sonntag noch von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten. Die Brücken in der gesamten Umgebung sind bei den Erdstößen zusammengebrochen, die Telefon-, Strom- und Wasserleitungen zerrissen. Zudem erschwert heftiger Regen die Hilfsbemühungen. Die pakistanische Armee setzt Hubschrauber ein, um Rettungskräfte in das Katastrophengebiet zu fliegen. Für die Helfer ist es ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit. Jene, die in die zerstörten Orte vordringen, erleben erschütternde Szenen. In Muzaffarabad graben obdachlos gewordene Menschen mit bloßen Händen nach Angehörigen. Einige Gebäude stehen noch, die meisten aber sind ganz oder teilweise zerstört. Die verstörten Bewohner kampieren im Freien, aus Angst, verschüttet zu werden, von einem der vielen Nachbeben, die nicht enden wollen.

Allein im pakistanischen Kaschmir 30.000 Tote

Nach dem schweren Beben vom Samstag erschließt sich das Ausmaß der Verheerungen in Pakistan erst allmählich. Die offizielle Liste der Toten, die die Regierungsstellen in Pakistan zusammenstellen, wächst Stunde um Stunde. Mehr als 30.000 Opfer sollen es allein in Kaschmir sein. Die Angaben stützen sich weitgehend auf Vermutungen. Der Sprecher von Präsident Musharraf, Generalmajor Shaukat Sultan, befürchtet, dass die Zahl der Opfer noch erheblich steigen könnte. "Ein solches Ausmaß der Verwüstung ist noch nie dagewesen in der 58-jährigen Geschichte unseres Landes", sagt er. Der Staatspräsident General Pervez Musharraf spricht von einer schweren Prüfung für die Nation und rief die 150 Millionen Pakistaner auf, Ruhe in der schweren Not zu bewahren.

In Abbottabad, auf der Strecke von Islamabad und Muzaffarabad, liegen Hunderte von Patienten auf dem Platz vor dem örtlichen Krankenhaus aufgereiht. Kamerateams filmen von Schmerzen gequälte Menschen am Rande des Deliriums. Das bescheidene Spital ist bei dem Beben so schwer beschädigt worden, dass es geräumt werden muss. Ärzte und Krankenschwestern erklären sich außer Stande, mehr als einen Bruchteil all jener Verletzten zu versorgen, die von Verwandten und Bekannten aus der ganzen Gegend in den Marktflecken gebracht worden waren. Offenkundig gibt es kaum jemanden dort, der nicht Tote zu beklagen hat. Sein Haus habe seine Familie vor seinen Augen unter sich begraben, berichtet ein Bauer aus dem Weiler Ugi unter Schock. Nur sich selbst habe er zu retten vermocht. Auf medizinische Betreuung wartet der Mann, der mehrere offene Wunden hatte, zunächst vergebens. "Es fehlt uns an Medikamenten, Blut und Ausrüstung, um die vielen Hilfsbedürftigen zu versorgen", sagt ein sichtlich überforderter Arzt in die Fernsehkamera.

Überall Not und Schrecken

Überall in der Region herrscht Not und Schrecken. In Balakot, einer Berggemeinde gut 20 Kilometer nördlich von Muzaffarabad, graben verzweifelte Eltern nach ihren Kindern. Mehr als 850 Schüler sind bei dem Beben unter zwei miteinander verbundenen Schulgebäuden begraben worden. Nicht einmal 50 von ihnen werden bis Sonntagabend aus den Ruinen geborgen, die Hälfte von ihnen tot, die anderen verletzt, wie ein pakistanischer Reporter berichtet, der die Ortschaft zu Fuß erreichte. Die Hilferufe der Überlebenden, die aus den Trümmern drängen, würden immer schwächer.

Der pakistanische Premierminister Shaukat Aziz appelliert an die internationale Gemeinschaft, seinem Land bei den Rettungsbemühungen zu helfen, mit Gerät und Rettern oder auch mit Geld. Indien, das in seinem Teil von Kaschmir mehr als 550 Erdbebenopfer zählt, gehörte zu den ersten Staaten, die der Regierung in Islamabad ihr Mitgefühl aussprechen und Unterstützung anbieten. Im Leid waren die beiden Erzrivalen auf dem indischen Subkontinent vereint. Auch Dutzende von Soldaten beider Länder waren am Samstag in den Bunkern und Schützengräben ums Leben gekommen, den Unterständen entlang der Waffenstillstandslinie des geteilten Kaschmir. Die Gebirgsstraße, die Muzaffarabad und Srinagar, die Hauptstädte des pakistanischen und indischen Teils von Kaschmir, verbindet, ist weitgehend zerstört. Der kleine Grenzverkehr, der im Verlauf des Friedensprozesses zwischen Pakistan und Indien eben erst aufgenommen wurde, wird auf absehbare Zeit unterbrochen bleiben.

Ein gespenstischer Lärm, so berichten es Zeugen, hatte die Naturkatastrophe begleitet. Aufgeregt krächzend seien die Vögel aufgestiegen, als die Bäume in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad am Samstagmorgen zu zittern begannen. Türen und Fenster hätten in ihren Rahmen geklappert, Tassen und Gläser in den Küchenschränken geklirrt. Die ersten Stöße lösten Alarmsirenen aus, deren Heulen in der ganzen Stadt zu hören gewesen sei. Aus dem Schlaf gerissen wird auch Sabahat Ahmed. Panik herrscht in seinem Wohnkomplex, den Margalla Towers, der zu diesem Zeitpunkt noch aus mehreren Apartmenthäusern bestand. Die zwölf Stockwerke hohen Gebäude schwanken. Sabahat Ahmed springt in seine Kleider und rennt die Treppe hinunter, wie er später einem Fernsehsender berichtet. "Die Bewohner strömten noch immer ins Freie, als die beiden Wohntürme in der Mitte bei einem kräftigen Erdstoß in sich zusammensackten", erzählt der Gerettete.

Die Katastrophe bricht, wenn man den Einwohnern glaubt, im Zeitlupentempo über den Wohnkomplex herein. Ein Nachbeben lässt nach dem ersten schweren Stoß die luxuriös ausgelegten, aber billig gebauten Wohnblöcke zusammenkrachen. Eine dicke Staubwolke verhüllt die Unglücksstelle minutenlang. Als sich der Schmutzschleier schließlich hebt, ist die ehemalige Wohnanlage ein gewaltiger Berg aus Betonbrocken. Der stellvertretende Polizeichef von Islamabad liegt darunter lebend begraben, ebenso wie Familienangehörige und andere Bewohner. Er ruft per Mobiltelefon aus dem Geröll um Hilfe. Die Rettungsmannschaften graben sich unterstützt von Freiwilligen ohne Pause zu den Verschütteten vor. Bis zum Sonntagabend bergen sie 20 Leichen. Die Zahl der Lebenden, die sie finden, war zumindest in diesem einen Fall höher.

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