Mysteriöse Katakomben:Der Maulwurf von Liverpool

Mysteriöse Katakomben: Seit Jahren arbeitet ein Ausgrabungsteam daran, die verschütteten unterirdischen Räume wieder freizulegen.

Seit Jahren arbeitet ein Ausgrabungsteam daran, die verschütteten unterirdischen Räume wieder freizulegen.

(Foto: www.williamsontunnels.com)

Im 19. Jahrhundert ließ ein Millionär unter der englischen Stadt ein riesiges, geheimes Tunnelsystem graben - 30 Jahre lang. Um seine Motive ranken sich mehrere Vermutungen.

Von Sofia Glasl

Geschäftsideen können so einfach sein. Für Technologie-Milliardär Elon Musk geht das in etwa so: Er sitzt erzürnt im Stau von Los Angeles und wünscht sich einen Tunnel, der unter der Stadt hindurchführt.

Er gründet eine Firma und bohrt drauf los. In Zeiten von Twitter und Co. kann die Welt live dabei sein, die Firmengründung dokumentiert sich quasi von selbst.

In früheren Zeiten gingen Unterlagen häufig verloren. Daher werden manchmal Tunnel gefunden, von denen niemand mehr etwas wusste. Etwa in Liverpool, der Hafenstadt im Nordwesten Englands.

Mitte der Neunzigerjahre wurde dort ein Tunnelsystem wieder entdeckt, das lange als Mythos galt und von dem bis heute nicht klar ist, welchen Zweck es einst hatte.

Nur so viel ist bekannt: Der Tabakhändler und Millionär Joseph Williamson begann hier 1810 im Stadtteil Edge Hill, unter seinem Wohnhaus in der 44 Mason Street Katakomben anzulegen.

Es fing mit Weinkeller und Speisesaal an, dann wuchs sich das Labyrinth rasch ins Unübersichtliche aus. Seit 2001 ist ein ehrenamtliches Ausgrabungsteam des eigens gegründeten Williamson Tunnels Heritage Center damit beschäftigt, die verschütteten Gänge freizulegen.

Über die Ausmaße des unterirdischen Areals kann das Archäologenteam nur spekulieren. Karten gibt es keine. Aus dem Keller des Hauses führte eine Falltür in das Tunnelsystem. Bis zu 27 Meter tief erstrecken sich dreistöckige Gänge und Höhlen, aus dem Sandstein im Untergrund geschlagen und mit Ziegeln zu kathedralartigen Gewölben geformt.

War Williamson ein Spinner oder gar Mörder?

Manche Gänge sind kaum einen Meter breit und öffnen sich dann plötzlich in riesige Räume. Die oberen Stockwerke wurden im Lauf der Jahrhunderte mit Schutt aus den Müllschächten der darüber liegenden Häuser gefüllt und müssen erst wieder geräumt werden.

Historische Augenzeugenberichte von früheren Erkundungstouren schildern Fußmärsche von über einer Meile Länge, bis das Ende das Haupttunnels erreicht war.

Es ist nicht überliefert, wieso Williamson das wild verzweigte Labyrinth bauen ließ. Doch man kann sich nur schwer vorzustellen, dass er dreißig Jahre lang nur aus Spaß Tunnel unter seinem Haus bohrte, bis er 1840 verstarb. Mindestens die sprichwörtliche Leiche im Keller oder ein anderes Geheimnis muss sich doch dahinter verbergen. Gerüchte von Schreien aus dem Untergrund gingen um.

Vielleicht ist das unterirdische Labyrinth auch eine Gruft? Oder waren die Gänge ähnlich der Undercity in Edinburgh, eine Stadt unter der Stadt, Schauplatz von Mord und Verbrechen? Dort lagerten 1827 die Serienmörder Burke und Hare ihre Opfer, bevor sie die Toten als Anatomieleichen verkauften.

Dem Sonderling Williamson, der von sich selbst als "The King of Edge Hill" sprach und den die Liverpudlians liebevoll spöttelnd "The Mole of Edge Hill", den Maulwurf von Edge Hill nannten, wurde auch die Mitgliedschaft in einem apokalyptischen Kult nachgesagt. Der Tunnel könnte also als rettender Bunker für den Weltuntergang angelegt worden sein.

War Williamson wirklich ein manischer Spinner oder gar Mörder? Was man über den ungewöhnlichen Geschäftsmann weiß, spricht eher dagegen. Er war gewiss ein Exzentriker, aber er galt als hilfsbereit und großzügig.

1769 in Armut geboren, ging er als junger Mann nach Liverpool und heiratete - angeblich in einem rosa Anzug - die Tochter eines Tabakhändlers und übernahm das Geschäft. Er wurde sehr reich, verlor aber nie seine bodenständige soziale Ader.

Willamson soll Banketts veranstaltet haben, auf denen nur ärmliche Speisen serviert wurden - um zu sehen, welche seiner vermeintlichen Freunde weiterhin zu ihm hielten und trotz des kärglichen Mahls blieben. Angeblich baute er die Tunnel, um den aus den Napoleonischen Kriegen heimkehrenden Soldaten Arbeit zu geben.

Vermutete Schmuggelwege und Schnapsbrennereien

Eine teure, über Jahrzehnte reichende Arbeitsbeschaffungsmaßnahme also? Vorstellbar, denn er ließ nicht nur das geheimnisvolle unterirdische Labyrinth graben, sondern kaufte auch nach und nach das Land um sein Wohnhaus auf, um architektonisch sinnlose Häuser, teils ohne Fenster, teils ohne zweckmäßige Raumaufteilung, errichten zu lassen.

Arbeiter berichteten, dass sie Tag für Tag Schutt von der einen Ecke in die andere schaufelten und dann wieder zurück. Die Bezahlung war gut.

Eine andere Theorie lautet, die verzweigten, oft in Sackgassen endenden Gänge seien Schmuggelwege oder Verstecke für illegales Schnapsbrennen gewesen. In den Tunnel wurden unversehrte Glas- und Tongefäße aller Art gefunden, von der Milchflasche bis zum Gifttopf - dazu Haushaltsausstattungen, Spielzeug, Schmuck und Münzen.

Für Historiker ist dieses Labyrinth eine Fundgrube aus Artefakten, die das Leben in Liverpool Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentiert und spiegelt.

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