Mordfall Lena:Lehren aus dem Lynchmob

Die Bereitschaft zur Verleumdung, zum üblen Nachreden ist so alt wie die Menschheit selbst. Doch die Öffentlichkeit des Internets macht es leichter, Anschuldigungen zu verbreiten und zu ganz realer Gewalt werden zu lassen. Der digital organisierte Lynchmob in Emden sollte zu einer Debatte führen, die wichtiger als die täglichen Streitereien um das Urheberrecht ist: Wie wollen wir mit Denunziation im Online-Zeitalter umgehen?

Kurt Kister

Tombstone ist ein Kaff im südlichen Arizona, das berühmt wurde, weil dort Wyatt Earp Sheriff war und sein Freund Doc Holiday mit einer Schrotflinte schoss. Auf dem alten Friedhof von Tombstone gibt es allerlei schwarzhumorige Grabinschriften, die vielleicht echt, mindestens aber gut erfunden sind. Da wird auf einem der Bretter eines gewissen George Johnson gedacht, der 1882 fälschlicherweise aufgehängt wurde, hanged by mistake. Man liest auf seinem Grabbrett: "Er hatte recht, wir nicht, aber wir haben ihn trotzdem aufgehängt."

Elfjaehriges Maedchen tot aufgefunden

Die Polizeiinspektion Emden, in der der unschuldig verdächtigte 17-Jährige zunächst verhört wurde.

(Foto: dapd)

Dieser Satz ist eine gute Definition der Lynchjustiz. Leider ist diese Form des Umgangs mit Verdächtigen nicht zusammen mit dem Wilden Westen gestorben, sie wird bis heute in der ganzen Welt praktiziert. In manchen Regionen hat man der Lynchjustiz ein Mäntelchen, nein: eine Burka, umgehängt und behauptet, das Toben des Mobs bei einer Steinigung entspreche göttlichem Recht. (Übrigens, nur nebenbei: Ein Land, das eine solche Strafordnung kodifiziert hat, sollte international geächtet werden - auch wenn es Öl an Deutschland verkauft.)

Leider bedarf es auch diesseits des Hindukusch offenbar nur eines Anlasses, um die Instinkte des Lynchmobs zu wecken. In Emden ist dies gerade geschehen, wo ein junger Mann ein Kind umgebracht hat. Die Polizei verhaftete ziemlich öffentlich einen ersten Verdächtigen, auf den sich sofort die Vorverurteiler etlicher Medien stürzten. Vom "miesen Kindermörder" las man in einer Boulevardzeitung und anderswo, nicht zuletzt bei etlichen sogenannten newssites im Netz, wurde nicht zwischen Festgenommenem und Täter differenziert.

Unter denunziatorischen Umständen verhaftet

Am entschiedensten waren, man muss sagen: wieder einmal, die besorgten Bürger, die eine besondere Form der Öffentlichkeit über Facebook, Twitter und andere, in diesem Falle ausgesprochen unsoziale, Netzwerke herstellten. Die Digital-Gestapo verbreitete Namen und Anschrift des Festgenommenen und lud Fotos jenes Hauses hoch, in dem der junge Mann wohnte. Man war sich nicht ganz einig, ob er erschossen werden sollte, aufgehängt oder kastriert. Aber, und fast denkt man da an das Transparenzgebot der Piratenpartei, immerhin debattierten die virtuellen Totschläger öffentlich.

Mittlerweile weiß jedermann, dass der erste Festgenommene unschuldig war; ein anderer hat gestanden. Und dennoch widerfuhr dem zu Unrecht Verdächtigten fast das Schicksal des George Johnson in Tombstone, allerdings ohne die letzte, tödliche Konsequenz. Der junge Mann ist fertig - er ist fertiggemacht worden, weil ihn die Polizei unter denunziatorischen Umständen verhaftet hat, weil manche Journalisten skrupellos arbeiteten und weil viele Leute ihren niederen Instinkten gehorchten.

Größtmögliche Öffentlichkeit hat auch Nachteile

Die Bereitschaft zur Denunziation, zum üblen Nachreden ist so alt wie die Menschheit selbst. An diesem Freitag, dem Karfreitag, wird nicht nur die Geschichte des sterbenden Jesus erzählt, sondern eben auch die von Judas, dem Erzverräter und Denunzianten.

Er hätte es heute bedeutend leichter - die Häscher könnten Jesus über die Mobiltelefone der Jünger orten, und außerdem hätte das Volk seit dem Einzug in Jerusalem jede Bewegung des Herrn auf Youtube und Facebook festgehalten.

Auch wenn es in Emden so aussah, ist in den letzten Jahren vielleicht nicht einmal die Lust an der Denunziation und der Zusammenrottung zum Mob gewachsen, obwohl einiges dafür spricht. Über das Internet kann jeder Interessierte die theoretisch größtmögliche Öffentlichkeit herstellen und diese aber gleichzeitig durch speziell auf ihn zugeschnittene Dienste in seinem unmittelbaren Lebensbereich konzentrieren.

Medientheoretisch gesehen, bedeutet dies die Zusammenfassung der Welt in einem Smartphone in der Handfläche, dessen Besitzer gleichzeitig Empfänger und Sender ist. Das Jedermann-Sendersein ist der riesige Unterschied zum Vornetz-Zeitalter.

Der Schwarm muss nicht intelligent sein

Weniger theoretisch heißt es aber auch, dass jedes Geschwätz, jedes Gerücht, jedes Foto ohne Zeitverzug wenn nicht Allgemeingut, so doch Allgemeingut der Interessierten werden kann. In der Vornetz-Zeit, gewissermaßen also in Tombstone, war der Lynchmob eine Angelegenheit von zwei Dutzend Leuten, die sich physisch irgendwo versammeln mussten. Heute kann ein Lynchmob Zehntausende umfassen, weil die vielgepriesene Intelligenz des Schwarms genauso funktioniert wie seine bisweilen gnadenlose Dummheit. Der Unterschwarm Emden ist ein Beispiel dafür: Die Polizei hatte ihm George Johnson gezeigt, und los ging es.

Öffentlichkeit ist kein Wert an sich, es kommt sehr darauf an, warum worüber Öffentlichkeit hergestellt wird. Das Jammern über die Allgegenwart der Netzöffentlichkeit ist nicht nur sinnlos, sondern auch falsch, weil nichts anderes unser Jahrhundert mehr prägt als das Netz. Es verändert die Menschen, nicht nur ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Aber gerade weil das so ist, muss man nicht nur zum Beispiel über das Urheberrecht in diesen Zeiten nachdenken, sondern auch und gerade über Regeln und Regelungen für jene Fälle, in denen die maßlose, meist anonyme Denunziation im Netz verletzt oder gar tötet.

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