Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche:Es hört nicht auf, es wird nur anders

Vor zwei Jahren gelangte der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche mit all seinen Details an die Öffentlichkeit - ein Betroffener schildert, wie schwer es ist, das Erlebte zu verarbeiten und warum die Reaktion der Kirche für ihn ein zweites Verbrechen ist.

Matthias Katsch

Sprechen hilft. Wirklich. Aber es ist ein anstrengendes Abenteuer. Es braucht einen Raum des Vertrauens dazu. In meinem Fall war es im Herbst 2009 die (wiederentdeckte) Freundschaft zu einem ebenfalls betroffenen Klassenkameraden und in der Folge die Gruppe von Mit-Betroffenen, die sich im Frühjahr 2010 im Zuge der öffentlichen Berichterstattung mit der Unterstützung einer geschulten Anwältin bildete.

Betroffene, die reden wollen oder sollen, müssen nicht nur zum ersten Schritt ermutigt werden. Sonst verstummen sie rasch wieder. "Wir glauben euch", eine Aussage von Klaus Mertes, dem damaligen Rektor meiner alten Schule, dem Berliner Canisius-Kolleg, war so ein ermutigender Satz. Ebenso wichtig empfand ich die fachlich gute, aber empathische und parteiliche Arbeit von Fachanlaufstellen und Mitarbeitern in Behörden. Ich bin dankbar für das ganz überwiegend sensible Herangehen der Journalisten, die dafür sorgten, dass den vereinzelten Betroffenen öffentlich zugehört wurde. Nur so konnte aus unserem Sprechen eine gesellschaftliche Debatte werden.

Sprechen über die sexuelle Gewalt als Erinnerungsarbeit an das Tatgeschehen ist seelisch sehr belastend und anstrengend. Es zerreißt einen von innen. Gerade am Anfang droht die Gefahr von Flashbacks, vom plötzlichen Wiedererleben des Tatgeschehens, im Schlaf, am Tag. Deshalb wollten wir Betroffenen nach den ersten aufregenden Wochen möglichst schnell alles hinter uns lassen. Heute weiß ich, dass dies eine Illusion ist. Es hört nicht auf. Es wird nur anders.

Schweigen ist für die Angehörigen besser zu ertragen

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit belastet nicht nur den Betroffenen, sondern auch seine nahen Angehörigen, Kinder, Partner. Viele denken irgendwann, das Schweigen zuvor wäre besser zu ertragen gewesen als die jetzige Situation; sie ziehen sich zurück. Ich selbst falle immer wieder in einen Zustand, den ein Freund "Erschöpfungsdepression" nennt.

Sprechen über den Missbrauch als Erinnerungsarbeit ermöglicht es auch, die eigene Biographie neu zu deuten und zu verstehen. Dies kann auch angenehm und entlastend sein. Oft werden in der Vergangenheit gestörte Beziehungen wieder neu entdeckt, zum Beispiel die zu den Eltern. Diese Erinnerungsarbeit ist eine Voraussetzung, damit der Betroffene gestärkt in die Zukunft gehen kann. Manche beginnen auch, sich einer reflektierten Art des Sprechens über das Geschehen zu bedienen. Gerade auch der Austausch mit anderen Betroffenen hilft ungemein, das eigene Erleben hinter sich zu lassen und ein reflektiertes Verhältnis zur Tat und den biographischen Folgen zu entwickeln. Denn rückgängig machen lässt sich beides nicht.

Eine wichtige Erfahrung in den zurückliegenden zwei Jahren war für mich, mit Betroffenen zusammenzuarbeiten, denen Familienangehörige sexuelle Gewalt angetan haben. Vor allem Frauen haben in den vergangenen Jahrzehnten hier enorme Vorarbeit geleistet. Ohne diese Vorarbeit hätten wir Männer uns wohl kaum zu Wort melden können. Auch das gesellschaftliche Klima spielt natürlich eine wichtige Rolle. Es ist kein tolles Gefühl, als Opfer kenntlich zu sein. Viele meiner Kameraden, die meinen, es sich beruflich nicht leisten zu können, wollen bis heute nicht als Missbrauchsbetroffene identifiziert werden. Ich habe lange gebraucht, meine eigene Opferrolle zu akzeptieren. Wir wollen allerdings nicht in dieser Position verharren, deshalb bezeichnen wir uns als Betroffene.

Die Opfer wurden alleine gelassen

Bei Betroffenen von sexueller Gewalt im Bereich von Institutionen wie der katholischen Kirche kommt zum eigentlichen Verbrechen die zweite Tat durch die Institution hinzu. Diese hat in der Vergangenheit gar nicht oder nicht adäquat auf Rückmeldungen von Opfern reagiert. Dieses zweiten Verbrechens werden sich die nun erwachsenen Opfer aber erst im Zuge der Aufdeckung und des Sprechens über den Missbrauch bewusst.

Zu erfahren, dass "meine" beiden Täter vor mir und nach mir jeweils Dutzende andere Jungen missbraucht haben, hat mich mehr geschockt als alles andere. Mein Schicksal war also nicht willkürlich oder zufällig, sondern Teil eines kompletten institutionellen Versagens. Die Vorgesetzten dieser Männer hätten meinen Missbrauch verhindern können. Doch die Täter wanderten ins innerkirchliche Täterschutzprogramm für gefallene Mitbrüder. Sie wurden unauffällig versetzt, um dann andernorts weiterzumachen wie zuvor. Die Opfer wurden alleine gelassen.

Mächtige Helfer auf Seiten der Kirche

Das ist ein zweites Verbrechen. Denn es bedeutet, man hat mir und Tausenden anderen die Chance geraubt, sich als junger Mensch mit der Missbrauchserfahrung auseinanderzusetzen und fachliche Hilfe zu erhalten. Stattdessen mussten wir verwundet und blind durch unser Leben stolpern. Dieses infame Verbrechen macht mich bis heute sehr wütend. Zur heilenden Dimension des Sprechens gehört daher die Auseinandersetzung mit der Institution. Dies trifft in besonderem Maße auf die katholische Kirche zu, weil in ihrem Bereich sehr viele Serientäter über sehr lange Zeiträume ungestraft (nicht unerkannt!) agieren konnten.

Die Art und Weise, wie die Kirche heute mit dem offenbar Gewordenen umgeht, hat daher hohe emotionale Bedeutung für die Betroffenen. Sie beobachten auch, dass die Täterschutzprogramme weltweit nach dem gleichen Muster abliefen. Sie sehen sich dabei einer machtvollen, transnationalen religiösen Konzernstruktur gegenüber.

Schließlich hat das Sprechen über den Missbrauch im Bereich der katholischen Kirche immer auch mit der Religion zu tun. Sie war das Einfallstor für den Täter, sie bot ihm die Anbahnungsmöglichkeiten. Im Opfer wurde oft das Gefühl für Religiosität beschädigt oder zerstört. Das Schweigen der Opfer im Bereich der Kirche war auch deshalb so anhaltend, weil kaum ein anderer Täter so mächtige Helfer auf seiner Seite hat wie den lieben Gott und seine irdischen Stellvertreter.

Deshalb nehmen viele, aber nicht alle Betroffenen nach wie vor Anteil an den Diskussionen innerhalb der katholischen Kirche, auch wenn sie ihr gar nicht mehr angehören. Für mich ist dies sicher ein Motiv, weshalb ich mich entschieden habe, Mitglied der Kirche zu bleiben. Ich will denen, die dort diese bitter notwendige Aufarbeitung für das "Geschwätz des Augenblicks" halten, nicht das Feld überlassen. Trotz alledem.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: