Missbrauchsprozess:Frau S. bleibt stumm

Viele Fragezeichen im Westerwälder Missbrauchsprozess: Die Mutter der acht Kinder verweigert die Aussage, das Jugendamt schaute weg. Und der beschuldigte Vater zieht ein Teilgeständnis zurück.

M. Widmann, Koblenz

Sie wird ihr Schweigen nicht brechen. Das sieht man schon, als sie hereinschleicht, als sie sich auf den Zeugenstuhl setzt im Koblenzer Landgericht und weder ihre Winterjacke ablegt, noch ihre Handtasche. Sie will schnell wieder weg. Erika S. hat die vergangenen 20 Jahre geschwiegen, während ihr dritter Ehemann Detlef sich daheim in Fluterschen und im nahen Wald an den Kindern verging: an seiner leiblichen Tochter, an der Stieftochter, mit der er acht Kinder zeugte, und womöglich missbrauchte er sogar eines dieser Kinder. "Ich mache keine Aussage", sagt Erika S. tonlos, eine ausgezehrte Frau, 52 Jahre alt, aber innerlich wohl viel älter. Ihr Schweigen geht weiter.

Prozess Westerwaelder Missbrauchsfall

Als Erika S. sich einmal schützend vor ihre Tochter stellte, soll der Angeklagte Detelf S. auf sie eingeprügelt haben, bis sie ohnmächtig am Boden lag.

(Foto: dapd)

Draußen vor dem Gerichtssaal steht eines ihrer acht Kinder, die Unterlippe zittert. Der Sohn sagt: "Ich kann ihr keine Vorwürfe machen, sie hat pure Angst vor ihm." Vor ihm, ihrem Ehemann. Im Frühjahr 2002, so erzählen es mehrere Kinder, soll sich Erika S. einmal schützend dazwischen gestellt haben, zwischen diesen Mann und eines ihrer kleinen Mädchen. Da prügelte Detlef S. angeblich so lange auf sie ein, bis sie ohnmächtig am Boden lag. Schon damals misshandelte er laut Ermittlungen regelmäßig seine Kinder, hatte bereits dreifachen Nachwuchs mit seiner Stieftochter gezeugt; drei Kinder, die genauso aussahen wie er. Hätte Erika S. damals ihr Schweigen beendet, wäre der Horror vorbei gewesen. Stattdessen schaute sie weg, auch als sich ihre missbrauchte Tochter an sie wandte: "Es gab etliche Hilferufe von mir", sagt diese, "aber sie wollte das wohl nicht hören." Die Mutter habe nur geweint und sie weggeschickt.

War es allein die Angst vor ihrem Mann? Wollte sie um jeden Preis die Fassade einer heilen Familie aufrechterhalten? War sie abgestumpft, weil sie als Kind selbst misshandelt wurde, wie ihre Tochter es einem Klatschmagazin anvertraute? Es bleibt ein Rätsel. Sie schweigt.

Sonderbares Verhalten von Behördenmitarbeitern

Weggeschaut hat allerdings nicht nur die Mutter. Immer fragwürdiger erscheint in diesem Fall die Rolle des Jugendamts in Altenkirchen. Am Mittwoch vor Gericht verhielten sich gleich mehrere Mitarbeiter der Behörde derart sonderbar, dass die Zuschauer lachen mussten, obwohl es um Todtrauriges ging. Da trat zunächst eine frühere Sachbearbeiterin des Jugendamts auf, die sich offenbar vorgenommen hatte, sich an nichts mehr zu erinnern. "Das kann ich Ihnen heute echt nicht mehr sagen", stammelte sie ständig. Auch auf die Nachfrage des Gerichts, warum sie 1998 trotz vieler Hinweise nichts unternahm.

Die junge Sozialarbeiterin war damals zuständig für die Familie S. und erhielt zwischen März und Mai zahlreiche Berichte auf ihren Tisch. Darin erzählt ein Stiefsohn des Angeklagten bei der Polizei, er werde geschlagen. Tage später vertraut er sich seiner Lehrerin an, er halte es nicht länger zu Hause aus, er werde täglich malträtiert. Wieder kurze Zeit später hält ein Polizist ein Telefonat mit der Stieftochter fest: Sie habe ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht nach Hause wolle, weil sie Angst habe. So geht es weiter, acht Hinweise insgesamt. Zwischendurch stritten die Kinder die Vorwürfe ab, um sie dann wieder zu erneuern. Bei jedem Schriftstück aus der Akte, das der Richter verliest, zuckt die damalige Mitarbeiterin des Jugendamts mit den Schultern. "Alles verdrängt?", fragt der Richter, eigentlich ein geduldiger Mann.

Überhaupt, die Akte des Jugendamts: "Darin herrscht gelinde gesagt ein heilloses Chaos", stellt ein beisitzender Richter fest. Die Blätter sind nicht in der zeitlichen Reihenfolge abgeheftet, und es klaffen gewaltige Lücken in den Unterlagen. Die größte reicht von April 2003 bis Februar 2008. In dieser Zeit zeugte Detlef S. weitere Kinder mit seiner Stieftochter. Ob das Jugendamt überhaupt etwas tat, ist nicht dokumentiert, eine plausible Erklärung bleibt aus. Das Gericht vernimmt es mit Erstaunen.

Detlef S. hatte beste Kontakte zum Jugendamt

Die bis heute zuständige Sachbearbeiterin tritt ein, eine mollige Frau mit rötlichem Haar. Auch in ihrer Zeit, im Jahr 2002, gab es wieder Hinweise, die Staatsanwaltschaft ermittelte, "und damit hatte sich das", sagt die Frau. Sie versuchte es mit Hausbesuchen, man habe ihr nicht geöffnet. Schließlich schrieb sie einen Brief an die Eltern, woraufhin der mutmaßliche Täter zu ihr ins Büro kam und erklärte, zu Hause sei alles in bester Ordnung. Wenn das Amt einmal mit den mutmaßlichen Opfern sprach, saß der Täter meist daneben. Er sei "irgendwie authentisch rübergekommen", sagt die Frau vom Jugendamt. "Ich möchte nicht jedem gleich unterstellen, dass er nicht die Wahrheit sagt."

Zu Hause prahlte Detlef S. vor seinen Kindern, er habe beste Kontakte zu der Behörde. Tatsächlich kennt er den Amtsleiter seit 32 Jahren. Als Detlef S. 16 Jahre alt war und seine Eltern starben, betreute ihn der heutige Amtschef und besorgte ihm eine Lehrstelle. Später schaute Detlef S. immer wieder bei seinem früheren Betreuer vorbei. So kam es auch zu einem bizarren Gespräch, das Amtsleiter Hermann-Josef Greb am Mittwoch im Gericht schilderte: Detlef S. beklagte sich, die Leute verleumdeten ihn, sie würden ihm vorwerfen, er setze mit seiner Stieftochter Kinder in die Welt. Woraufhin Greb zu ihm gesagt haben will: "Ganz einfach: Mach' einen Vaterschaftstest."

Den Test führte dann die Staatsanwaltschaft durch, er fiel eindeutig aus. Sie ermittelt nun auch gegen das Jugendamt.

Derweil hat Detlef S. seine Kooperation wieder in Frage gestellt. Nach Ende der Verhandlung wurde am Mittwoch bekannt, dass er sein Teilgeständnis im Gespräch mit einem psychologischen Gutachter widerrufen hat. Er sei von der Entwicklung "selbst überfahren worden", sagte sein Verteidiger Thomas Düber.

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