Miriam Wagner aus Thüringen:Königin der Knackwürste

Miriam Wagner aus Thüringen: Wurstkönigin Miriam Wagner auf dem Wursttag 2014: "Ich esse jeden Tag Wurst."

Wurstkönigin Miriam Wagner auf dem Wursttag 2014: "Ich esse jeden Tag Wurst."

In Zeiten, in denen Fleisch misstrauisch beäugt wird, trägt Miriam Wagner eine Schärpe, auf der in alter deutscher Schrift "Thüringer Wurstkönigin 2013/14" steht. Sie posiert auf Messen, mal mit Hack im Hintergrund, mal mit Knackwurst in der Hand - und nimmt es sogar in Kauf, dass ihr die Leute auf die Pelle rücken.

Von Charlotte Theile

Was ist denn das für 'ne Wurstkönigin?" Der Mann im rot-weiß-karierten Hemd schaut entsetzt. "Die hat ja gar keine Wurstbacken!" "Die sieht gar nicht nach Wurst aus", stimmt ihm ein anderer zu.

Miriam Wagner verdreht die Augen. Es stimmt. Sowohl der Mann im karierten Hemd als auch sein Kollege, bei dem die Hosenträger jeden Moment vom Bauch zu springen drohen, sehen deutlich mehr nach Wurst aus als die schlanke, junge Frau im roten Abendkleid.

Miriam Wagner dreht sich mit strahlendem Lächeln zu den beiden Mittsechzigern um. "Ich esse jeden Tag Wurst", sagt sie und zwinkert ihnen zu, "ganz viel sogar." Einer der beiden zupft anerkennend an ihrer eierschalenfarbenen Schärpe. "Aber bei uns in der Filiale rennen wir den ganzen Tag hin und her, her und hin. Da bleibt nicht viel auf der Hüfte." Mit einem Griff hat Miriam Wagner die Finger von ihrer Schärpe gelöst und wendet sich zum Gehen. "Ich kann's bald nicht mehr hören", sagt sie nach ein paar Schritten. Ihre Mutter nickt: "Ich auch nicht."

"Thüringer Wurstkönigin 2013/14" steht in alter deutscher Schrift auf der Schärpe, die Wagner herumträgt. In Zeiten, in denen Fleisch und jede Art von Wurst misstrauisch vom sich bewusst ernährenden Konsumenten beäugt werden, in denen fleischlose Gerichte in Restaurants und privaten Kochsessions Trends setzen, beginnt Miriam Wagners zweites Amtsjahr als Bannerträgerin der heimischen Wurstproduktion. Sie leiht dem Produkt ihr Gesicht - und nimmt in Kauf, dass ihr die Leute auf die Pelle rücken.

Kein Kunde kann übersehen, dass er von einer Hoheit bedient wird

Thüringer Wursttag in Erfurt, März 2014. Ein Pflichttermin. Mit Schärpe und Krönchen flaniert Wagner durch die Messehallen, in denen noch einiges mehr als Fleisch und Wurst angeboten wird: Exotische Gewürze, Infrarotkabinen, Fußpflegeprodukte, eine Ausbildung bei der Bundeswehr. Ihre Eltern und ihr Freund wollen einkaufen, doch sie kommen nicht weit. Alle zehn Meter muss die 24-Jährige stehen bleiben, lächeln, für Fotos posieren, mal mit Hack im Hintergrund, mal mit Knackwurst in der Hand. Miriam Wagner strahlt. Ihre Haare, die sie morgens beim Friseur hat machen lassen, fallen glamourös über die Schulter. Dass die eine Seite ihres Kopfes abrasiert ist, wird geschickt verdeckt. "Hoheit", "Majestät", "Miriam, die Erste" - so geht es den ganzen Vormittag. Messebesucher verbeugen sich vor ihr.

Zeulenroda, Thüringer Vogtland. Miriam Wagner, Filialleiterin der Fleischerei Löffler im Penny Markt, schneidet die Blutwurst frisch an. Es ist später Nachmittag, außerdem Montag, "da ist eh nichts los", aber trotzdem. Die Ware soll appetitlich aussehen. Ein Schweinchen aus Ton, eines aus Plastik und Porzellan lächeln von den Wänden. Auf der Theke liegen Autogrammkarten - Miriam im roten Kleid, silberne Krone, eierschalenfarbene Schärpe. Daneben ein Edding. "Miriam, die Wurstqueen" schreibt sie, wenn ein Kunde eine Karte will - und das kommt fast jeden Tag vor. Über der Theke hängen riesige Fotos, eines zeigt eine preisgekrönte Schinkenplatte, ein anderes Miriam mit Krone. Kein Kunde kann übersehen, dass er von einer Hoheit bedient wird.

An der Wursttheke im Penny, wenige Meter weiter, werden immer neue Tiefstpreise gehandelt, die Discounter unterbieten sich gegenseitig. Kirchen und Landwirte klagen: Nirgendwo seien die Verbraucher so wenig bereit, für Qualität zu zahlen wie in Deutschland. "Ich sehe es so", sagt Wagner, und wischt die Hände an ihrer roten Schürze ab, "wer gute Ware haben will, Qualität, muss ins Fachgeschäft gehen. Und da stehe ich auf jeden Fall dahinter."

Heimat ist da, wo die Wurst schmeckt

Aller bewussten Ernährung zum Trotz: Wurst steht in Deutschland wie kaum ein Lebensmittel für Identität. Ob Pfälzer Saumagen, Münchner Weißwurst, Pommersche Schlackwurst oder gekochte Mettwurst aus Westfalen - Heimat ist für viele Menschen da, wo ihnen die Wurst schmeckt. Viele Regionen würden ihr Produkt am liebsten zum Weltkulturerbe erklären lassen. In Thüringen ist der Wurstpatriotismus besonders ausgeprägt. Die "Roster", wie Wagner die berühmten Rostbratwürste nennt, sind mindestens 15 Zentimeter lang, mittelfein, roh oder gebrüht, würzige Geschmacksnote, enger Naturdarm, Fettgehalt höchstens 25 Prozent.

Seit ihrer Ernennung hat sich für Miriam Wagner einiges verändert. In ihrem Stammlokal, der Waage in Burkersdorf, fallen die Jungs schon mal auf die Knie, wenn Majestät eintritt. Die Bekannten, die ihr nicht gratuliert haben, als sie die neunte Wurstkönigin Thüringens wurde, kann sie an einer Hand abzählen. Dass junge Mädchen als Botschafterin für gehacktes Fleisch im Naturdarm durchs Land reisen wollen, ist auf den ersten Blick erstaunlich. Aber Miriam Wagner hatte drei Gegenkandidatinnen - jede wäre gern mit Kleid, Krone und Knackwurst aufgetreten.

Um den Titel zu erhalten, muss man in der Fleischerei arbeiten. Ein Beruf, der bei Jugendlichen oft wenig beliebt ist. Auch Wagner hatte nach der Realschule anderes vor. "Ich wollte was mit Tieren machen, Pferdewirtin oder so."

Verfahrensmechanikerin, Süßwarenproduktion oder "etwas mit Kunststoff" hätte sie sich auch vorstellen können, aber "es ist, wie es ist." Als sie bei einer Messe die kunstvoll geschnitzten Häppchen sah, dachte sie: "Das will ich auch können. So bin ich dann Fleischereifachverkäuferin geworden." Ihre Mutter war skeptisch: ein Beruf, der wenig Karrierechancen bietet, niedrige Löhne, früh aufstehen. Immer freundlich sein, immer lustig. Doch die Tochter schließt die Ausbildung mit Bestnoten ab, ihre Häppchen, Kanapees genannt, gewinnen Preise. Kurz nach der Ausbildung leitet Wagner die Filiale. Führungsjob mit Anfang 20, wer wäre da nicht stolz?

Ihr Freund ist Vegetarier, doch Wurstkönigin Miriam unterstützt er trotzdem

Stephan Gottschalt, 26, ist seit fünf Jahren mit Miriam Wagner zusammen. Gerade macht er seinen Abschluss in Literatur und Germanistik in Jena. Auf dem Wursttag in Erfurt kommt er sich fremd vor. Gottschalt ist Vegetarier, seit vier Jahren schon. "Irgendwann, wenn man sich diese schrecklichen Bilder anschaut, wird einem klar, dass man bei dieser Schweinerei nicht mehr mitmachen sollte", sagt er. Sein Protest richtet sich vor allem gegen Massentierhaltung, billige Supermarkthühnchen, widerlich. Bei der Familie seiner Freundin kommt er damit nicht durch. "Wir grillen ganzjährig", sagt Mutter Andrea Wagner lachend. "Ich könnte nie Vegetarier sein", stimmt Vater Michael Wagner zu.

Gerade hat er sich zwei Stück Schinken, Wildschwein und Reh, von einem Messestand geholt. Michael Wagner sieht sehr zufrieden aus. Es gab auch einiges zum Probieren. Reh und Wildschwein kommen aus dem Wald, sie wurden nicht wegen ihres Fleisches getötet, sondern um den Bestand konstant zu halten. Sein zukünftiger Schwiegersohn ist nicht überzeugt. "Ich habe neulich erst über die Jagd gelesen, dass sie die Waldtiere durcheinanderbringt. Dass die nachtaktiven Rehe immer mehr am Tag unterwegs sind, weil sie nachts geschossen werden." Besser und natürlicher wäre es, die Tiere in Ruhe zu lassen, findet Gottschalt. "Es gibt ja jetzt auch wieder Wölfe. Die regeln das bestimmt."

Seine Freundin, Wurstkönigin Miriam, unterstützt er trotzdem. Die Fleischerei ist nun mal ihr Job - und Arbeit findet sich im Vogtland nicht so leicht. Etwa zehn Prozent der Menschen in der Gegend sind arbeitslos. Am Wochenende und abends isst Miriam gern vegetarisch, Stephan kocht viel mit Tofu. "Das passt also", sagt er und schaut zu seiner Freundin, die gerade ein Foto mit einem Bierbrauer aus Apolda macht. Michael Wagner hat Bier gekauft und fotografiert die beiden, Arm in Arm. Der Bierbrauer grinst. "Wann hat man schon mal so was Schickes in der Hand?" fragt er in die Runde. "Jeden Tag", brummt Stephan Gottschalt. "Na, jetzt ist mal gut", sagt Mutter Andrea. Sie will weiter, zu den Heckenscheren. Auch ihre Tochter sieht müde aus, so hohe Schuhe wie heute hat sie selten an den Füßen.

"Unsere Preise sind für Zeulenroda ganz schön steil"

In der Fleischerei trägt Miriam Wagner flache, weiße Schuhe aus Plastik. Am Morgen, von sechs Uhr früh an, wird gekocht, gebraten und Wurst von gestern für die Soljanka geschnitten. Die Haare sind irgendwie zusammengebunden, die abrasierte Kopfseite sieht eher nach Punk als nach Hoheit aus. Egal. Jetzt muss es schnell gehen, von sieben Uhr an stehen die Kunden im Laden, um elf beginnt der Mittagstisch. Zu viert und ohne viel zu sprechen füllen die Angestellten die Theke auf. Hackepeter, Rotwurst, Bierschinken, Salami, Kartoffelsalat. Zwölf Plastikbehälter mit Soljanka, 1,95 Euro das Stück.

Im hinteren Teil des Ladens köchelt das Hühnerfrikassee. Von elf an stehen Büromenschen, Bauarbeiter, Rentner Schlange, das Frikassee mit Reis für 3,50 Euro geht gut weg, die Schnitzel auch, der Möhreneintopf, 2,60 Euro, weniger. "Ist nicht jedermanns Sache, Möhreneintopf", sagt Wagner mit einem Blick in die vollen Töpfe. "Gerade ist es sowieso schlecht, Monatsende. Unsere Preise sind für Zeulenroda ganz schön steil." Am Freitag kommen die Leute, da gibt es das Wochenendsparpaket, 600 Gramm Schälbraten und 500 Gramm Wiener für zehn Euro. Um 12.50 Uhr wird es ruhiger, zwei Männer noch essen am Stehtisch Hühnerfrikassee.

Anders als die Wurstköniginnen vor ihr hatte Miriam Wagner wenige Auftritte. "Ich hab kein Frei bekommen", das muss sie auf dem Wursttag immer wieder sagen. Bisher waren die Hoheiten selbständig oder "die Tochter vom Chef", erklärt Wagner zwei Rentnern mit Baseballkappen, auf denen je eine Bratwurst im Brötchen angebracht ist. Die beiden sind vom Thüringer Bratwurstmuseum und finden, dass die Königin dort zu selten vorbeischaut. Die Fleischerei geht nun mal vor.

362 Wurstproben in Blindtest, später Schnaps

Auf dem Wursttag ist auch ihr Chef, Ulrich Löffler. Einmal im Jahr treffen sich hier alle Fleischer der Landesinnung. Höhepunkt des Tages: die Wurstprüfung. 362 Proben aus 71 Betrieben werden in Blindtests verkostet. Dazwischen wird Wasser gereicht, später auch Schnaps. Fleischereifachverkäuferinnen stellen Kanapees und Schinkenplatten vor, die Fleischerlehrlinge Rollbraten und Spieße. Dass sich ein Mann für den Verkauf entscheidet, kommt fast nie vor, umgekehrt ist es genauso.

Thüringens Landwirtschaftsminister Jürgen Reinholz (CDU) ist spät dran. Miriam Wagner erwartet ihn mit einem selbst gemachten Wurststrauß. Salami, Leberwurst, Ritter Sport: das Markenzeichen der Königin. Reinholz hält eine kurze Rede, lobt die 18 000 Beschäftigen der Branche, spricht von Gaumenfreuden, Kultur, Identität, der Rostbratwurst, die "bis weit über die Grenzen Thüringens bekannt ist". Nach der Rede passt ihn ein Lokalreporter ab. Was der Minister von fleischloser Ernährung hält? "Wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass wir nur vegetarisch essen, hätte er uns ein anderes Gebiss gegeben."

Für den zweiten Programmpunkt hat sich Reinholz mehr Zeit genommen: Messespaziergang mit "unserer Hoheit, der Miriam". Goldprämierte Bratwurst, feine Spießchen, frischer Naturdarm. Wie man als Volksvertreter Bratwurst verspeist, hat schon Forscher beschäftigt: Wer zu viel Kiefer zeigt, wirkt aggressiv, wer die Zähne verbirgt, kann aussehen, als lutsche er an dem Würstchen. Keine Bratwurst ist auch keine Option: Sie steht für einfaches, ehrliches Essen. Reinholz ist Profi. Er probiert hier und da ein Bratwurststückchen, mundgerecht geschnitten, jedes Mal mit sichtbarem Genuss. Dann schnell ein Bier, bevor die Auszeichnung der Lehrlinge ansteht.

Miriam Wagner verschwindet in den Hof, zum Rauchen. Genau wie auf der Arbeit: fünf Minuten Ruhe. Ihr Freund Stephan ist da, beladen mit Gewürzen und vegetarischer Bolognese. Er raucht eine selbst gedrehte, sie Pall Mall. Er achtet darauf, dass keine Asche auf ihr Kleid fällt, redet über Politik und Bücher, die er zuletzt gelesen hat. Sie sagt nur eins: "Ich bin fertig." Ein letztes Mal muss sie auf die Bühne, Auszeichnung der Lehrlinge. 80 Namen werden verlesen, 80 Urkunden verteilt, 80 Mal gratuliert Wurstkönigin Miriam.

Ihre Eltern und ihr Freund schauen von weitem zu. Jedes Mal, wenn eine Dicke auf der Bühne steht, sagt ihr Freund: "Das wäre doch mal 'ne ordentliche Wurstkönigin."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: