Michelle Martin, die Frau an der Seite von Marc Dutroux:Die Schüchterne und das Ungeheuer

Sie wusste alles und verhinderte nichts - die Willenlosigkeit und die Angst der Mitangeklagten geben den Geschworenen Rätsel auf

Von Cornelia Bolesch

Arlon, im Mai - Er war ein toller Schlittschuhläufer. Zu seinen Tricks auf dem Eis gehörte es, die Mädchen so anzurempeln, dass er ihnen beim Fallen als Retter unter die Arme greifen konnte und dabei, ganz zufällig, auch die Brust berührte.

Michelle Martin, die Frau an der Seite von Marc Dutroux: "Er wurde mein Gott, wie mein Vater es war"

"Er wurde mein Gott, wie mein Vater es war"

(Foto: Foto: dpa)

"Mit ihm fühlte ich mich zum ersten Mal frei und lebendig"

Sie war hingerissen, als sie ihn traf. "Mit ihm fühlte ich mich zum ersten Mal frei und lebendig", erinnert sie sich später. Sie hatte gerade ihr Lehrerinnendiplom in der Tasche, aber panische Angst vor dem Beruf, dem sie sich nicht gewachsen fühlt. Er dagegen schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Er war verheiratet. Das verschwieg er ihr nicht. "Ein Mann braucht mehrere Frauen", erklärte er ihr. Das sei wissenschaftlich erwiesen.

Da laufen sich also im Jahr 1981 die schüchterne 21 Jahre alte Michelle Martin und der 25-jährige Draufgänger Marc Dutroux auf einer Schlittschuhbahn in Brüssel über den Weg. Dieser Zufall steht am Beginn einer Verbrechensserie, die Jahre später sechs Familien fürs Leben zeichnen wird und ganz Belgien an den Rand einer Staatskrise bringt.

Das Paar sitzt hinter schusssicherem Glas in einem Gericht der kleinen Stadt Arlon. Marc Dutroux, der Eisprinz, ist als Mädchenschänder weltweit bekannt geworden. 569 Zeugen sind im Prozess gegen ihn, seine Ex-Ehefrau Michelle Martin und zwei weitere Angeklagte gehört worden. Die Anwälte haben mit den Plädoyers begonnen. Am 14. Juni werden sich die zwölf Geschworenen zur Beratung zurückziehen.

Mit mildernden Umständen kann Dutroux nicht rechnen. Er war es, der 1995 mit Hilfe des Junkies Michel Lelièvre die zwei Teenager An und Eefje entführt hat.

Die Schüchterne und das Ungeheuer

Er hat sie missbraucht und schließlich, halb betäubt, vergraben. Er ist schuld, dass die achtjährigen Julie und Melissa in einem dunklen Kellerloch vor Hunger und Durst krepierten.

Zwei weitere Mädchen, Sabine und Laetitia, haben die Gefangenschaft und die Vergewaltigungen in seinem Haus gerade noch überlebt. Und wären Dutroux, seine Mitwisserin Michelle Martin und sein Gehilfe Lelièvre 1996 nicht endlich ergriffen worden, dann hätte er sich von Belgiens Straßen neue Mädchen geholt und in seine Gewalt gebracht - darauf programmiert, Schwächere zu benutzen, zu missbrauchen und zu beherrschen.

Worte an die Opfer

Drei Psychiater und ein Psychologe haben Marc Dutroux vor Gericht als "perfekten Psychopathen" beschrieben, der kein Mitgefühl kennt. Sie haben ihn im selben Atemzug mit Adolf Eichmann genannt - was dem geltungssüchtigen Angeklagten wahrscheinlich gefallen hat.

Doch je länger über Dutrouxs abnorme Persönlichkeit verhandelt wurde, umso mehr rückte der Charakter der Frau mit den langen blonden Haaren ins Blickfeld, die neben ihm auf der Anklagebank sitzt, aber demonstrativ einen Meter Abstand hält. "Das Rätsel" wird sie in den belgischen Medien genannt.

Von den vier Angeklagten in Arlon ist sie es, die das Publikum am meisten irritiert. Scheinbar ungerührt lässt Michelle Martin die unsäglichsten Details an sich vorbeiziehen. "Ich bedaure unendlich, was geschehen ist", so wendet sie sich an die Familien der Opfer. Doch es klingt, als würde sie einen fremden Text aufsagen. Hin und wieder lächelt sie versonnen.

"Gehirn komplett ausgelöscht"

Anders als Dutroux, dessen Leben seit einer Kindheit ohne Liebe immer weiter ins Abseits führte, schien sie, als sie ihn kennen lernte, mit ihrem Diplom wenigstens eine solide Zukunft vor sich zu haben - stattdessen stürzte sie in einen Abgrund des Verbrechens. Dutroux sei wie ein "Dämon" gewesen, hat sie dem Gericht erklärt. Er habe ihr "Gehirn komplett ausgelöscht". Aus Angst vor ihm sei sie wie erstarrt gewesen.

Ihre traumatische Kindheit scheint zu dieser Aussage zu passen. Mit sechs Jahren hat Michelle ihren Vater verloren, den sie vergötterte. Er stirbt bei einem Autounfall, als er sie zur Schule bringt. Sie selbst wird schwer verletzt.

Sie hat ihre Karnevalsmaske zu Hause vergessen, und der Vater verliert die Gewalt über das Auto, als er auf der eisglatten Straße wendet, um die Maske zu holen. Michelles Mutter wird nach dem Tod ihres Mannes schwer depressiv. Sie gibt der kleinen Tochter die Schuld und klammert sich gleichzeitig mit aller Macht an sie.

Noch mit 18 Jahren schläft Michelle Martin mit ihrer Mutter in einem Bett. "Ich habe es nie gelernt, mich zu verteidigen, mich zurechtzufinden", gibt sie zu Protokoll.

Die Schüchterne und das Ungeheuer

In dieser Welt voller Trauer und Schuldgefühle erscheint Marc Dutroux wie ein Befreier. "Er wurde mein Gott, wie es mein Vater war", sagt Michelle Martin. Auch Dutroux berichtet ihr von einer unglücklichen Kindheit und dem Hass auf seine Mutter, die ihm keine Geborgenheit gab. Er konnte charmant sein. Das hat auch seine erste Frau Francoise bestätigt, mit der er zwei Söhne hat. "Geschlagen hat er mich erst, als ich schwanger war", erzählt sie dem Gericht.

Auch Michelle Martin, die 1985 den Sohn Fréderic, 1993 seinen Bruder Andy und 1995 die Tochter Céline zur Welt bringt, hat die Eifersucht ihres Mannes auf die eigenen Kinder zu spüren bekommen. Glaubt man ihrer Version, so lässt sich ihre unfassbare Komplizenschaft mit Dutroux nur dadurch erklären, dass sie große Angst vor ihm hatte und ihre Kinder schützen wollte.

Stimmt das? Ist Michelle Martin wirklich nur ein "weiteres Opfer" des Serientäters, wie es ihre Anwälte den Geschworenen beibringen wollen? Sieht die Wahrheit, die dieser Prozess im Laufe von 13Wochen unbarmherzig zu Tage gefördert hat, nicht ganz anders aus: Hätte es ohne diese Frau, die alles wusste und alles billigte, das verbrecherische Reich des Marc Dutroux überhaupt gegeben? Ist sein egomanischer Machtdrang durch ihre unterwürfige Passivität nicht erst beflügelt worden? Konnte es zu diesen Verbrechen an Kindern kommen, weil sich deformierte Männlichkeit mit dieser hässlichsten Schwäche der Frauen verbündete?

"Madame Martin lügt wie immer"

Seitdem Michelle Martin zur Hauptbelastungszeugin ihres Ex-Mannes wurde, ist die Beziehung endgültig zerbrochen. "Madame Martin lügt wie immer", das hört man von Marc Dutroux in diesem Prozess sehr oft.

Sie wiederum beklagt sich: "Um unsere Kinder, Herr Vorsitzender, hat er sich natürlich überhaupt nicht gekümmert." In solchen bizarren Augenblicken konnte man den Eindruck haben, man sei auf einem Scheidungstermin. Auf Dutrouxs Betreiben hat sich das Paar allerdings schon 1992 scheiden lassen, aus finanziellen Gründen: Zwei Haushalte konnten mehr Sozialhilfe beziehen.

Unabhängig davon hat sich Michelle Martin widerstandslos in sein Zerstörungswerk gefügt. In den Achtzigerjahren macht sie sogar mit, als Dutroux seine ersten Entführungen startet. Fünf junge Mädchen werden in Autos gezerrt, gefesselt, vergewaltigt und nach wenigen Stunden wieder freigelassen.

Dutroux rechtfertigt das ihr gegenüber allen Ernstes mit dem Hinweis, auf diese Weise könne er andere Frauen haben, ohne jedoch allzu viel Zeit mit ihnen verbringen zu müssen.

Einige Jahre später steht Michelle Martin in einem Kellerloch, in dem ihr Mann Kinder einsperren und vergewaltigen will, und pinselt es mit Farbe aus. Er hat Gelb ausgesucht, das Versteck sollte "fröhlich" wirken. Zur weiteren Ausstattung der Schreckenskammer zweigt sie "Tim-und-Struppi"-Hefte ihres ältesten Sohnes Frédéric ab.

Bedrohliche Ungeheuer

Sie reinigt das Wohnmobil, in dem die 14-jährige Laetitia entführt wurde. Und als Dutroux wegen anderer Delikte für einige Wochen hinter Gittern verschwindet, füttert sie zwar regelmäßig die zwei Schäferhunde. Doch sie ignoriert Julie und Melissa, die in der umgebauten Zisterne dahinvegetieren.

Sie habe es nicht gewagt, in den Keller hinabzusteigen, behauptet sie. Die beiden Mädchen seien für sie keine Kinder gewesen, sondern bedrohliche "Ungeheuer".

"Wie konnten Sie als Mutter solche Grausamkeiten zulassen?" Michelle Martins Antwort ist immer dieselbe: Das Geschehen sei unfassbar. Sie bedaure zutiefst. Sie habe einfach Angst gehabt. Marc Dutroux, dem Vater von fünf Kindern, stellt man diese Frage erst gar nicht. Er hat sich seinen Kindern gegenüber so verhalten, wie er es von seinem eigenen Vater gelernt hat: ungeduldig, gewalttätig, herablassend. "Kinder stören nur", hat er seine erste Frau wissen lassen.

Die Schüchterne und das Ungeheuer

Wenn es stimmt, was Nachbarn berichten, so hat Michelle Martin nicht nur die entführten Kinder allein gelassen. Sie hat auch die eigenen Kinder kaum vor Marc Dutroux geschützt. Eine Zeugin erzählt: "Einmal hat er seinen Sohn Frédéric im Garten so heftig geschlagen, dass er zu Boden fiel. Sie hat überhaupt nicht reagiert."

Als hinter der Maske des Charmeurs immer deutlicher der Psychopath zum Vorschein kommt, schreckt sie nicht etwa zurück. Nein, sie begleitet ihn Schritt für Schritt. Viele Aussagen in Arlon bezeugen den erschreckenden Befund: Erst mit seiner Frau Michelle Martin hat Marc Dutroux seine Grenzen wirklich ausgetestet und allmählich alle moralischen Hemmungen gesprengt.

Alte Schulfreunde von Michelle Martin sind befremdet, als sie und Marc Dutroux mit ihrem Sohn Frédéric auf einer Party erscheinen. Dutroux macht vulgäre Sprüche und wirft sein Kind immer wieder in die Luft - "wie einen Gegenstand".

Eine andere Zeugin berichtet, sie habe Michelle Martin in ihrem Haus besucht und sei völlig perplex gewesen, als diese ihr völlig ungerührt erklärte, Marc fahre gerade im Auto herum: "Er sucht mal wieder nach jungen Mädchen."

Dann schlägt Michelle Martin der Freundin vor, gemeinsam auszugehen. Den sechs Monate alten Säugling Frederic will die Mutter allein im Haus zurücklassen.

Michelle Martin folgt Dutroux in die unmöglichsten Experimente. Er befiehlt ihr, mit einem Präservativ in ihrem Körper herumzulaufen, das sein Sperma enthält. Nach drei Tagen soll sie es öffnen. Er hat gelesen, dass Spermien, aus denen Mädchen werden, länger leben. Das Experiment klappt. Neun Monate später wird Celine geboren.

Angst vor dem Alleinsein

Wenn seine Tochter älter ist, will Marc Dutroux sie persönlich "in die Liebe einführen", kündigt er Michelle Martin an. Sie erträgt es. Sie macht alles mit - wirklich nur aus Angst?

In den Achtzigerjahren, als Michelle Martin und Marc Dutroux wegen der ersten Vergewaltigungsserie zum ersten Mal im Gefängnis sitzen, hätte sie den Absprung schaffen können. Aus der Zelle schreibt sie Briefe an ihre Mutter, in denen sie ihre Lage klar beschreibt. "Warum verlasse ich ihn nicht?", fragt sie sich. Und gibt eine erstaunliche Antwort: "Ich habe Angst davor, alleine zu leben."

Kein Wort davon, dass sie seine Gewalttätigkeit fürchtet, so wie sie es jetzt vor Gericht behauptet. Sie nennt noch ein anderes Motiv, das sie zum Ausharren an der Seite des Psychopathen zwingt: Sie wolle der Umwelt gegenüber nicht ihr Scheitern eingestehen.

Da spricht eine Frau, die eine Wahl getroffen hat: Die lieber der "Abfallkübel" für einen perversen Mann sein will als auf sich allein gestellt.

Doch noch eine weitere furchtbare Vermutung drängt sich auf: Aus der Tatsache, dass Dutroux sie in alle seine Taten einbezogen, dass er ihr alles gebeichtet hat, muss Michelle Martin auch ein Gefühl von Bedeutung bezogen haben. Dafür hat sie die Kinder geopfert.

Fast ein Dutzend Psychiater ist in Arlon erschienen, um über "das Rätsel" Michelle Martin Auskunft zu geben. Von ihrer "brüchigen Persönlichkeit" ist die Rede. Sie schaffe es, die Geschehnisse um sich herum so aufzuspalten, dass es keine innere Verbindung mehr gibt. Ob auch auf sie das Urteil Lebenslänglich wartet, ist ungewiss. Für sie wäre es vielleicht gar keine Bestrafung.

Frieden gefunden

Anders als Marc Dutroux, der sich ständig über seine Haftbedingungen beklagt, hat Michelle Martin nach Auskunft der Gefängnisdirektorin hinter den Mauern der Haftanstalt "ihren Frieden gefunden".

Einmal im Monat bekommt sie dort Besuch von ihren Kindern. Die zwei jüngeren leben unter anderem Namen bei einer Pflegefamilie. Auch Frederic, der älteste, hat seinen Namen geändert. Er ist der einzige, der auch den Vater im Gefängnis besuchen darf. Frederic war zwölf, als ein Polizeihubschrauber im Garten landete und seine Eltern verhaftet wurden.

Seitdem versucht er zu begreifen, was geschehen ist. Auch dieses Kind ist ein Opfer seiner Eltern. Dennoch sucht er ihre Nähe: "Ich glaube nicht, dass sie von Grund auf böse sind."

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