Menschenexperimente zur NS-Zeit:Museum des Grauens

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Im gerichtsmedizinischen Institut wurden die Leichenteile gefunden. (Foto: Patrick Hertzog/AFP)

Für die Experimente des Nazi-Arztes August Hirt wurden im Elsass mindestens 86 Juden ermordet. Jetzt hat ein Historiker Überreste der Opfer entdeckt.

Von Stefan Ulrich

Gerüchte gingen schon seit Jahren um: In der medizinischen Fakultät der Universität Straßburg sollen immer noch Leichenteile von Juden aufbewahrt sein, die von den Nazis im Zweiten Weltkrieg umgebracht worden waren, um sie in einer Art Skelett-Museum auszustellen.

Die Universität hatte solche Behauptungen bislang zurückgewiesen. Doch jetzt machte der Arzt und Historiker Raphaël Toledano einen verstörenden Fund.

Kurze, aber furchtbare Phase

Toledano hatte ein altes Dokument aus dem Jahr 1952 ausgewertet, aus dem hervorging, dass im gerichtsmedizinischen Institut der Universität mehrere Gefäße mit solchen Leichenteilen stünden. Er begab sich daher mit dem Direktor des Instituts in ein kleines Museum der Fakultät, in dem Forscher und Studenten Skelette, Organe und Köpfe von Verstorbenen betrachten können.

"Schon nach einigen Minuten fanden wir einen Glasbehälter mit Hautstücken eines der Opfer", berichtet Toledano. Kurz darauf entdeckten sie zwei weitere Gefäße mit Magen- und Darminhalt eines ermordeten Juden. Darunter waren Kartoffelschalen - offensichtlich das letzte Essen des Opfers.

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Die Funde zeugen von einer kurzen, aber furchtbaren Phase in der Geschichte des Instituts. Nach der Besetzung Frankreichs hatten die Nazis 1941 die "Reichsuniversität Straßburg" gegründet. Direktor des Anatomischen Instituts wurde ein Mann, über den Rolf Hochhuth später in seinem Drama "Der Stellvertreter" schrieb, er habe durch seine "wissenschaftlich gepflegte Idiotie und Grausamkeit" selbst noch das übliche Maß vieler prominenter SS-Mediziner übertroffen. Sein Name: August Hirt.

1942 begann der verbrecherische Professor damit, in dem ebenfalls im Elsass gelegenen Konzentrationslager Natzweiler-Struthof Kampfstoffe, unter anderem Senfgas, an Häftlingen auszuprobieren. Für diese entsetzlich schmerzhaften und sehr oft tödlichen Menschenversuche missbrauchte er Juden, die für diese Zwecke aus dem KZ Auschwitz nach Natzweiler-Struthof gebracht worden waren.

86 Juden ließ Hirt in der Gaskammer des Elsässer Konzentrationslagers ermorden, um dann die Leichen in sein Anatomisches Institut in Straßburg bringen zu lassen. Dort wollte der NS-Arzt die Skelette für die geplante Sammlung präparieren lassen.

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Doch bevor es dazu kam, wurde Straßburg im November 1944 von den Amerikanern und Franzosen befreit. Die 86 Leichen des Professor Hirt wurden auf einem jüdischen Friedhof bei Straßburg in einem Massengrab beigesetzt. Erst seit Kurzem steht dort ein Gedenkstein mit den Namen der Toten.

Ein französischer Gerichtsmediziner, der die Leichen 1944 vor deren Beisetzung untersucht hatte, entnahm damals einige Leichenteile wie die jetzt gefundenen Haut-, Magen- und Darmproben, um sie für Studienzwecke aufzubewahren. Dies geriet dann jedoch an der Universität, die inzwischen wieder eine französische war, in Vergessenheit.

So kam es, dass im Anatomischen Institut bis heute Leichenteile jüdischer Nazi-Opfer zu sehen waren. Der Historiker Toledano, der sie jetzt fand, kritisiert, dass ausgerechnet die sterblichen Überreste von Menschen, die die Nazis ermordet hatten, um ein Museum auszustatten, tatsächlich ausgestellt wurden. Dies sei "nicht zu tolerieren und inakzeptabel".

Der SS-Mediziner August Hirt leitete das Anatomische Institut Straßburg. (Foto: oh)

"Ich habe dem Institutsdirektor sofort gesagt, dass ihr Platz nicht in einem Museum ist, sondern auf dem Friedhof", sagt Toledano, der dem wissenschaftlichen Beirat der Struthof-Gedenkstätte angehört.

Der Direktor des Anatomischen Instituts, Jean-Sébastien Raul, zeigte sich "überrascht" von dem Fund. Er bestätigte jetzt, die Behälter mit den Leichenteilen seien immer noch im Institut. Sie sollen jedoch nach Angaben des Straßburger Großrabbiners René Gutman wahrscheinlich am 6. September, dem Gedenktag für die Opfer des Nazi-Regimes, auf dem jüdischen Friedhof des Straßburger Stadtviertels Cronenbourg bestattet werden. Dort liegen bereits die anderen Überreste der 86 Ermordeten.

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Die Identifizierung mindestens eines Teils der nun gefundenen, in Formalin aufbewahrten Leichenteile erscheint sicher. Denn zwei der Behälter im Anatomischen Institut sind mit der KZ-Nummer 107969 beschriftet.

Sie lässt sich Menachem Taffel zuordnen, einem aus Polen stammenden Juden, der 1943 von den Nazis aus Berlin verschleppt und nach Auschwitz deportiert worden war. Von dort wurde er dann in das KZ Natzweiler-Struthof gebracht, wo er dem Wahn des NS-Arztes Hirt zum Opfer fiel.

Waren das alle Überreste? Die Uni ist sich nicht sicher

Insgesamt wurden in dem Elsässer Konzentrationslager zwischen 1941 und 1944 schätzungsweise 52 000 Menschen gefangen gehalten. 22 000 von ihnen starben. Die Leiterin der Gedenkstätte sagte jetzt, sie empfinde große Traurigkeit über den Fund an der Universität. Hirts Opfer seien unter unerträglichen Umständen getötet worden.

In Straßburg geht jetzt die Frage um, ob die Universität noch weitere sterbliche Überreste ermordeter Juden aufbewahrt, ohne selbst davon zu wissen. Erst im Januar hatte die Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel "Hippocrate aux enfers" (Hippokrates in der Hölle) Unruhe ausgelöst.

Darin beschreibt der Autor unter Verweis auf ältere Dokumente weitere Behälter mit Leichenteilen, die offenbar nicht mit den nun gefundenen identisch sind.

Laut Informationen der Zeitung Le Monde hatte Hirt 1944 nach seiner Flucht aus dem Elsass in einem Brief geschrieben, er habe 250 weitere "anatomische Präparierungen" in Straßburg vorgenommen. Kurz nach Kriegsende, Anfang Juni 1945, erschoss sich der mörderische Arzt selbst.

© SZ vom 23.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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