Medizin:Gesundes Kind als Anspruch

Nach geltendem Recht dürfen Kinder abgetrieben werden, die dem Stand der Medizin nach bereits lebensfähig sind. Gynäkologen fordern daher härtere Regeln für Spätabtreibungen.

Holger Wormer

Eigentlich hätte das Baby längst tot sein sollen. Doch der Abtreibungsversuch des Gynäkologen war gescheitert. Das Kind kam lebend auf die Welt - und der Arzt war von einem Moment auf den anderen zur Hilfeleistung verpflichtet.

Denn das Baby, das im Mutterleib noch getötet werden durfte, war plötzlich ein Mensch mit allen Rechten.

Was paradox klingt, ist für manche Ärzte brutale Realität. Denn als der Abtreibungsparagraph 218 Mitte der 90er Jahre geändert wurde, fiel auch die Zeitbegrenzung für Schwangerschaftsabbrüche.

Seitdem dürfen Kinder abgetrieben werden, die außerhalb des Mutterleibs bereits lebensfähig wären. Gleichzeitig ist das Diagnose-Inventar gewachsen, nicht zuletzt durch zahlreiche Gentests.

Spektakuläre Fälle - etwa die genetische Auswahl eines Kindes als passender Stammzellspender für seinen Bruder in Großbritannien - heizen die Debatte weiter an.

Auf einer Fachtagung in Berlin forderten Gynäkologen daher eine Reform der vorgeburtlichen Diagnostik und des Paragraphen 218.

Offiziell erscheint die Zahl der Spätabtreibungen gering: Im Jahr 2002 wurden insgesamt 130.387 Abbrüche statistisch erfasst, davon 188 nach der 23. Schwangerschaftswoche, in der Babys bereits lebensfähig sind.

"Diese Statistiken begegnen aber erheblichen Zweifeln", heißt es in einem Papier der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG): "Berichte aus der Praxis zeigen, dass in mehreren Kliniken Spätabbrüche erfolgen, die dann offenbar als Totgeburten und nicht als Abbrüche registriert werden."

Nach Meinung der Mediziner sollten Spätabtreibungen im Paragraphen 218 begrenzt werden: "Die Lebensfähigkeit ist in der Regel als zeitliche Grenze für einen Schwangerschaftsabbruch zu fordern."

Spätestens dann unterscheide sich der Anspruch des Ungeborenen auf Lebensschutz nicht mehr von dem eines Neugeborenen. Ausnahmen könnten nur schwerste, unbehandelbare Krankheiten und Entwicklungsstörungen sein. Im

Einzelfall soll darüber eine Ärztekommission entscheiden. Einige Mediziner fordern ein generelles Verbot von Abtreibungen nach der 22. Schwangerschaftswoche, die mit Krankheit oder Behinderung des Fötus begründet sind.

Als Grund für eine Abtreibung reichten manchen Eltern schon harmlose und nach der Geburt reparierbare Schäden wie eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte aus, beklagen die Ärzte: "Zunehmend sind wir mit dem Anspruch auf ein gesundes Kind konfrontiert, zu dessen Verwirklichung auch ein Schwangerschaftsabbruch in Kauf genommen wird."

Bessere Beratung und die Pflicht zur Bedenkzeit könnten den "Automatismus" von der Diagnose einer Fehlbildung zur Abtreibung durchbrechen, sagt der Lübecker Gynäkologe Klaus Diedrich, der das Papier der DGGG federführend erarbeitet hat.

"Und bereits vor der ersten Ultraschalluntersuchung sollte die Mutter auch die Chance haben, zu sagen: Ich will all diese Untersuchungen gar nicht", so Diedrich.

Zwei weitere Forderungen der Gynäkologen betreffen die Ärzte selbst: Ihr Recht, eine Abtreibung aus Gewissensgründen zu verweigern, müsse gestärkt werden. Zudem soll der Arzt nur bei grober Fahrlässigkeit für den Unterhalt von Kindern haften, deren Behinderung er vor der Geburt nicht erkannt hat - trotz aller aufwändigen Diagnosen.

(sueddeutsche.de)

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