Mafia-Prozess:Der Pate und die Pizzini

Im Prozess gegen Bernardo Provenzano geben kleine Notizzettel Einblicke in das Schreckensregiment des Mafia-Bosses. Aus seinem Versteck mischte er sich selbst in Uniprüfungen ein.

Stefan Ulrich

Falls er wütend war, hat er sich nichts anmerken lassen: Schweigend und fast regungslos verfolgte "Zu Binnu" ("Onkel Binnu", wie sie ihn in Sizilien nennen), in den vergangenen Tagen die Aussagen des Kronzeugen. Einmal allerdings setzte er seine Brille mit dem Goldrand ab und wieder auf, als wollte er prüfen, ob er richtig sehe.

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Der Pate ist gefasst, die Mafia lebt weiter: Bernardo Provenzano nach seiner Festnahme.

(Foto: Foto: Reuters)

Schließlich musste Bernardo Provenzano, der Boss der Bosse der Cosa Nostra, einen aus seiner Sicht ungeheuerlichen Verrat miterleben. Von seinem Hochsicherheitsgefängnis in Terni aus war er per Videoübertragung mit einem Gerichtssaal verbunden. Dort enthüllte ein Mann namens Antonino Giuffre Einzelheiten aus dem Leben des Paten.

Es war das erste Mal, dass Provenzano direkt mit den Vorwürfen eines Überläufers konfrontiert wurde. Und Giuffre ist nicht irgendein Mafioso. Er war die rechte Hand des Paten, "sein Exekutor", wie der Zeuge bekannte.

Doch Provenzanos Gesicht blieb undurchdringlich. In 43 Jahren auf der Flucht hat er gelernt, ruhig Blut zu bewahren. Wie an jenem 11. April vergangenen Jahres, als Sondereinheiten der Justiz sein Versteck bei Corleone stürmten. "Sind Sie Provenzano?", rief der erste Polizist, der in das unscheinbare Steinhäuschen eindrang. Provenzano erwiderte: "Warum soll ich Ihnen das sagen, wenn Sie es eh schon wissen?"

Archaisch und genial

Seitdem sind die Ermittlungen gegen die Cosa Nostra gut vorangekommen, obwohl der Pate schweigt. Dafür haben die Fahnder einen Teil der ,,Pizzini'' zum Sprechen gebracht, die in seinem Versteck gefunden wurden. Pizzini, das sind kleine, mit verklausulierten Botschaften beschriebene Zettel, mit denen Provenzano aus dem Untergrund die sizilianische Mafia führte. In Zeiten von Mobiltelefon und Internet war das ein archaisches Kommandosystem - und ein geniales. Denn so konnte der Pate die moderne Abhörtechnik der Ermittler unterlaufen.

Nun aber werden ausgerechnet diese Zettelchen Onkel Binnu zum Verhängnis. Mittlerweile haben die Fahnder drei Dutzend Pizzini entschlüsselt, auch mit Hilfe der Aussagen Giuffres. Die Botschaften fügen sich zum Bild eines alternden Bosses, der manisch um seine Sicherheit bangte, überall Wanzen witterte und sich bis in persönliche Details der Mafia einmischte. Und der tatsächlich "das unangefochtene Haupt der Cosa Nostra war", wie ein Staatsanwalt sagte. Der Kronzeuge Giuffre bestätigte jetzt: "Er war der Regisseur, der die Cosa Nostra vorantrieb."

Mit Hilfe der Pizzini hielt Provenzano mit drei zentralen Personen Kontakt: mit Giuffre, mit dem Palermitaner Clanchef Salvatore Lo Piccolo und mit Matteo Messina Denaro aus Trapani. Über sie legte der Pate die Höhe von Schutzgeldern fest, verteilte Einnahmen an die Clans, kümmerte sich um Aufträge und mischte sogar bei Baumaßnahmen der Justiz von Palermo mit.

Zudem schlichtete er Streit in der Mafia. Dank der Zettel konnte der Boss auch zu gefangenen Mafiosi sprechen. So wurden Pizzini in Kleidungsstücke eingenäht, die die Ehefrauen ihren inhaftierten Männern brachten.

"Beten wir zu unserem lieben Gott"

Provenzano garnierte seine als Wünsche vorgetragenen Befehle gern mit religiösen Floskeln wie: "Beten wir zu unserem lieben Gott, dass er uns anleitet, gute Taten zu vollbringen." Unter diese Taten mag Onkel Binnu sein Engagement für den Sohn eines Mafioso gezählt haben. Der junge Mann stand vor einer Universitätsprüfung, und Provenzano ließ dem Prüfer eine Empfehlung zukommen. Anschließend zeigte er sich in den Pizzini sehr zufrieden über das "gute Verhalten" des Professors bei der Prüfung.

Die Zettelchen sind eine Fundgrube für die Fahnder. Sie haben zur Verhaftung Dutzender Familienoberhäupter der Mafia geführt. Weitere werden folgen. "In den kommenden Monaten wird es in Palermo ein Erdbeben geben", prophezeit die Zeitung La Repubblica. Die Cosa Nostra aber reagiert diszipliniert.

Der erwartete Krieg um die Nachfolge Provenzanos blieb aus. Manche Fahnder vermuten, dass sich Lo Piccolo und Denaro, die seit Jahrzehnten abgetaucht sind, fürs Erste die Führung teilen.

Die Mafia macht weiter

Die Ermittler warnen davor, die Mafia nach der Festnahme Provenzanos als besiegt anzusehen. Nach den Niederlagen der ländlichen Mafia aus Corleone sei nun die bürgerliche Mafia der Unternehmer, Ärzte und Politiker auf dem Vormarsch. Sie vermeide spektakuläre Morde und durchdringe die Gesellschaft leise. "Die Mafia hat weiterhin eine extreme Bedeutung auf unserem Territorium", warnt Carlo Rotolo, der Präsident des Berufungsgerichts von Palermo. Sie pflege ihre Verbindungen mit "der Welt der Politik und der Wirtschaft".

Dieser Weißen-Kragen-Mafia kommt es nur gelegen, wenn in diesen Wochen alle Welt auf Provenzano schaut. Der Boss der Bosse genießt in Italien große Aufmerksamkeit. Diese Woche sendet das Staatsfernsehen einen Spielfilm mit dem Titel "Der Letzte der Corleonesi" und das Doku-Drama "Schach dem König". Kurz darauf wird der Privatsender Canale 5 mit "Der letzte Pate" nachziehen. Selbst die Papierindustrie hat Onkel Binnu als Einnahmequelle entdeckt - Mafia à la carte sozusagen. Ein Hersteller aus Fabriano bietet jetzt ein Set mit kleinen weißen Zettelchen an. Der Handelsname: "Pizzini".

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