Mädchenfreundschaften:Ich liebe dich

Früher waren die magischen drei Worte echten Paarbeziehungen vorbehalten, heute schmachten sich Freundinnen im Jugendalter auf diese Weise an. Die Geschichte eines gesellschaftlichen Phänomens.

Von Lisa Schnell

Julia liebt Pauline. Sie liebt ihre Augen, die sehen, wenn es ihr nicht gut geht, ihre Hand, die sie dann tröstend auf ihr Knie legt. Sie liebt ihr gemeinsames Lachen, wenn sie einfach losprusten und niemand weiß warum. All die kleinen Geheimnisse, Gesten, Blicke, Zeichen, die nur sie kennen. Sie liebt, dass sie nichts sagen müssen, um sich zu verstehen. Wie letztes Jahr an Weihnachten, die Geschichte mit der Backmischung: Julia schenkte sie Pauline und Pauline Julia, weil sie alles zusammen können, nur nicht backen.

Sogar das gleiche Foto hatten sie an ihr Geschenk geklebt, ein Sonnenuntergang am See, das Wasser schimmert rosa, davor Julia und Pauline auf einer Schaukel, im Gegenlicht verschmelzen ihre Körper zu einem. In solchen Momenten sagt Julia zu Pauline: "Ich liebe Dich". Wenn sie sich mal nicht sehen können, dann tippt sie ihre Gefühle in ihr Handy, schreibt, wie dankbar sie ist, dass Pauline immer für sie da ist, sie versteht und ihr helfen kann.

Julia und Pauline sind kein Paar, sie führen keine Liebesbeziehung, sie sind 15 Jahre alt, Mädchen mit seidigen Haaren und engen Jeans. Sie sind beste Freundinnen. Beste Freundinnen gibt es so lang, wie es Jugendliche gibt. Seitdem beobachten Jugendforscher: Jungs hängen eher in Cliquen ab. Sie übernehmen zwar mitunter den emotionalen Stil von Mädchen, aber eher zum Spaß, ansonsten: Umarmen, sich am Nacken packen. Intime Gespräche, echtes Vertrauen, das probieren die meisten erst später aus, wenn sie ihre erste Freundin haben. Mädchen aber haben oft ihre eine beste Freundin, der sie alles erzählen, die sie manchmal auch eifersüchtig gegen eine Dritte verteidigen. Herzen auf Zettelchen, die man sich unter der Schulbank zusteckt, Umarmungen, Begrüßungsbussis, das ist alles nicht neu. Aber: "Du und ich in Ewigkeit", "Oh mein Gott, Du gehörst mir!", und: "Ich würde für dich sterben"?

Fotos Mädchenfreundschaften

Julia und Pauline, wie sie sich selbst sehen: mit Kussmund vor dem Spiegel.

(Foto: privat)

Der Soziologe Martin Voigt von der Ludwig-Maximilians-Universität München war verwundert, als er auf diese Sätze im Internet stieß. Das war 2007, Facebook gab es noch nicht, dafür lokale Netzwerke, in denen sich Mädchen in ihre Gästebücher schrieben. Alle quollen sie über von Herz-Schmerz-Lyrik bester Freundinnen. Nun hat Voigt ein Buch darüber geschrieben, "Mädchen im Netz". Er hat als einer der Ersten in Deutschland aktive Feldforschung in dieser Sache betrieben, er wertete tausende Kommentare und Fotos aus - und beschreibt damit ein gesellschaftliches Phänomen, das sich nicht nur in Deutschland beobachten lässt.

Anfangs waren die Botschaften noch recht unromantisch, ein "Hab dich lieb", mehr nicht. Früher stand der Rechner noch in Papas Arbeitszimmer, eine halbe Stunde in diesem Internet, das war viel. Dann hatten immer mehr ihren eigen Laptop, irgendwann war die ganze Klasse online und jeder konnte zählen, wer wem mehr Herzchen hinterlassen hat.

Und heute? "Ich liebe dich", die drei magischen Worte, früher nur Liebespaaren vorenthalten, sind heute Teil von vielen Mädchenfreundschaften. Julia sagt sie zu allen guten Freundinnen. Wo man auch hinblickt in ihrem Kinderzimmer, überall Liebesbotschaften. My Girl, My Love steht auf den Fotos neben dem Bett. Darauf umarmen und küssen sie sich, halten Händchen. Sie stammen von all den Fotosessions, in denen sie ihre Freundschaft zelebrieren. Julia zieht ein Album unter ihrem Bett hervor. "60 Gründe, warum ich dich liebe", steht darauf.

Die Fotos hängen nicht nur in ihrem Zimmer, sie stehen auch im Internet, bei Instagram oder Facebook. Für Julia ist es normal, ihre Liebe öffentlich zu machen. Und ihr Profil gehört noch zu den nüchternen Auftritten der abffls im Netz - der allerbesten Freundinnen für's Leben.

Sie schreiben sich, wie sehr sie sich lieben, warum sie sich lieben, wer wen mehr liebt und wie lange, nämlich ewig. Auf Facebook sind sie verheiratet. Auf Youtube hinterlassen sie sich gegenseitig Liebesbotschaften: romantisches Klaviergeklimper, zwei Hände, die ein Herz formen im Sonnenuntergang. Haben sich Mädchen schon immer so angeschmachtet? Warum muss, was früher im Poesiealbum stand, geheim und mit Schloss verriegelt, jetzt mit 20 Herzen in die Welt hinaus gepostet werden? Ist das beängstigend oder normal im Facebook-Zeitalter?

Zwei Nachrichten

Sonntag: Ich will nicht die Sterne vom Himmel. Ich will nur eins: Dich

Heute: Unsere Freundschaft hat sich tief in mein Herz eingebrannt

Das Wettrüsten der Mädchen, die Orientierung an der Meinung anderer - Martin Voigt sieht darin nicht weniger als eine gesellschaftliche Katastrophe. Für ihn haben die Mädchen nicht die Kraft, sich gegen den Strom zu stellen, weil sie von zu Hause zu wenig Halt bekommen. Dass sie sich in symbiotische Freundschaften "flüchten", interpretiert er als Zeichen für eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung.

Ein Schreckensszenario - von dem bei Julia zu Hause allerdings nichts zu spüren ist. Ihre Mutter ist gerade nach Hause gekommen, der Vater wurstelt in der Küche. Beim Abendbrot muss Julia das Handy weglegen, da ist Familienzeit. Sie fahren zusammen in den Urlaub, zum Skifahren. "Bei wichtigen Themen kommt Julia zu mir", sagt die Mutter. Julia nickt. Sie wirken eher vertraut als fremd.

In der Fachwelt steht Voigt mit seinen kulturpessimistischen Thesen ziemlich alleine da. Mädchen, die innige Freundschaften pflegen, kämen eher aus stabilen Familien, sagt etwa Jugendforscher Heinz Hermann Krüger von der Universität Halle. Studien würden zeigen, dass Werte wie Familie und Verbindlichkeit für Jugendliche heute sogar sehr wichtig sind. Er hat eine andere Erklärung für den Kult der besten Freundin im Netz: "Jugendliche machen im Netz eigentlich genau das, was sie sonst auch tun." Das hätten seine Forschungen gezeigt. Und viele Mädchen malen ihre Namen eben gern in Herzen, mit dem Buntstift oder mit der Maus.

Neu sei aber, dass sie es öffentlich tun und in so überschwänglichem Ton. Ein "Ich liebe dich" ist heute auf Facebook ungefähr so viel wert wie eine Freundschaft: herzlich wenig. Das liege auch daran, dass sich die Jugend im Netz an den Liebes- und Freundschaftsritualen aus den USA orientieren. Wie oft Amerikaner "I love you" sagen, ist zumindest für die ältere Generation in Deutschland befremdlich.

"Bei dir steht ,Ich liebe Dich' auf Facebook?" Kurz ist Julias Mutter doch ein wenig irritiert. Dann überlegt sie. Bei ihr hieß es noch "Ich mag dich", aber das, sagt sie dann, sei heute wohl einfach anders.

Manches aber bleibt irgendwie immer gleich. Julias Handy klingelt. Die Mutter verdreht die Augen. Julia hechtet zu ihrem Telefon. Könnte Pauline sein.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: