Loveparade-Unglück:64 Fragen und kaum Antworten

Gedenkstätte Loveparade

21 Menschen starben am 24. Juli 2010 im Massengedränge der Loveparade.

(Foto: Martin Gerten/dpa)

Wer ist schuld am Loveparade-Unglück in Duisburg? Die Aussagen des Gutachters Keith Still werfen Fragen auf. Der Brite verstrickt sich offenbar in Widersprüche.

Von Klaus Ott, Duisburg

Diese Tage sind Tage der Trauer in Duisburg und anderswo. Fünf Jahre ist es her, dass bei der Loveparade 21 Menschen, die zum Teil von weit her angereist waren, zu Tode kamen. Es gab Hunderte Verletzte, es folgten Hunderte Strafanzeigen, jahrelange Ermittlungen und schließlich eine Anklage gegen zehn Personen wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung.

Ob es zum Prozess kommt, hängt jetzt vor allem von 64 Antworten auf Fragen des Landgerichts Duisburg ab. Wer schuld gewesen sein soll an dem tödlichen Gedränge, wird aber vielleicht nicht einmal das Gericht klären können. Zumindest wohl nicht auf Basis der 64 Auskünfte, die von dem britischen Forscher Keith Still stammen.

Professor Still aus Manchester hat einen Doktortitel in "Crowd Dynamics", Menschenstromdynamik bei öffentlichen Versammlungen. Die Loveparade-Anklage beruht bereits auf zwei Gutachten des Briten. Dem Landgericht genügten die beiden Expertisen nicht, es hakte nach bei Still. Mit ursprünglich 75 Fragen, aus denen dann 64 Aspekte wurden. Kürzlich gingen die Antworten bei Gericht ein.

Das Grundproblem des Gutachters: hier die Theorie, dort die Praxis

Das in der deutschen Fassung 83 Seiten lange "Ergänzungsgutachten" inklusive mehr als 60 Fotos von der Loveparade belastet die zehn Beschuldigten schwer; aber Still verstrickt sich dabei offenbar in Widersprüche. Und er hat sich bereits öffentlich geäußert über angeblich grobe Fehler bei der Planung und Genehmigung des Spektakels. Das könnte gegen Stills Verschwiegenheitspflicht als Gutachter verstoßen. So sehen das einige Verteidiger der Beschuldigten, bei denen es sich um vier Mitarbeiter des damaligen Loveparade-Veranstalters Lopavent und sechs Beschäftigte der Stadt Duisburg handelt. Die Staatsanwaltschaft Duisburg nimmt ihren Gutachter in Schutz. Damit ist eine neue Runde im Loveparade-Verfahren eröffnet, was es der Justiz aber kaum leichter macht. Stills Grundproblem: hier die Theorie, dort die Praxis.

Der Gutachter glaubt, die Wege zur Loveparade und von dort weg seien nicht ausreichend gewesen. Es habe klare Hinweise auf das "Risiko der Überfüllung" und der Gefahr für Leib und Leben gegeben. Der Zugang durch einen Tunnel und über eine Rampe sei zu eng gewesen für das Kommen und Gehen von mehr als 200 000 Besuchern. Das hätte bei der Planung und Genehmigung erkannt werden müssen. Ein schwerer Vorwurf gegen die beschuldigten Mitarbeiter von Veranstalter und Stadt. Doch war die angebliche Fehlplanung die Ursache für das tödliche Gedränge?

Frage des Gerichts an Still: Treffe es zu, dass der Gutachter im Einzelnen nicht weiter untersucht habe, ob die von ihm errechneten Kapazitätsgrenzen auch tatsächlich überschritten worden seien? Antwort von Still: Die Personen, die sich durch die Rampe bewegt hätten, seien "nicht tatsächlich physisch gezählt" worden. Die Videobilder eigneten sich nicht für eine nachträgliche, "genaue Zählung", wie viele Leute stündlich gekommen sowie gegangen seien. Selbst eine Schätzung sei schwierig. Andererseits schreibt Still, die Menschenmenge sei größer gewesen als vom Veranstalter vorhergesehen. Das "war klar".

Es seien gar Daten manipuliert worden

Doch wirklich klar ist bislang nur wenig. Zum Beispiel, dass Still jene, die das Großereignis in Duisburg planten und genehmigten, öffentlich angeprangert hat; bei einem Vortrag an der Universität in Manchester Ende November 2013. Nicht einmal die "einfachste Mathematik" sei angewandt worden. Es seien gar Daten manipuliert worden, um im Rahmen der genehmigten 235 000 Besucher zu bleiben. "Man hat einige Zugangs- und Abgangszahlen geändert und damit ein bisschen jongliert."

Still hat seinen Uni-Vortrag im Internet veröffentlicht, wo er rund ein Jahr lang zu lesen war, bevor er wieder gelöscht wurde. Das Landgericht Duisburg fragte Still daraufhin, unter welchen Umständen der Uni-Vortrag wieder von seiner Webseite entfernt worden sei. Stills Antwort: Die Staatsanwaltschaft Duisburg habe ihn bei einem Telefonat ungefähr im September 2014 auf diese Veröffentlichung im Internet hingewiesen. Es habe jedoch "keine bestimmte Anweisung" gegeben, den Vortrag zu entfernen. Das sei mehrere Wochen später geschehen, als man die Webseite aktualisiert habe, so Still. Einer der Verteidiger, Björn Gercke aus Köln, wirft Still in einem Brief ans Gericht dagegen vor, gegen seine Verschwiegenheitspflicht als Gutachter verstoßen zu haben. Still habe die Beschuldigten öffentlich diskreditiert, er sei befangen. Andere Anwälte sehen das genauso.

Still habe nur "öffentlich zugängliche" Informationen verwendet

Die Staatsanwaltschaft widerspricht dieser Kritik. Die Ermittlungsbehörde teilte auf Anfrage der SZ mit, Still habe erklärt, er habe für seinen Uni-Vortrag lediglich "öffentlich zugängliche" Informationen verwendet. Wenn ein Gutachter im Rahmen seines Berufs Stellung beziehe, etwa bei einer Lehrveranstaltung, dann liege in der Regel keine Befangenheit vor. Natürlich dürfe sich der Sachverständige, schreibt die Staatsanwaltschaft auch, nicht zu Erkenntnissen äußern, die er infolge seines Gutachten-Auftrags erlangt habe. Bei seinem Uni-Vortrag in Manchester hat Still vor den Studenten ganz offen über eine Frage geplaudert, die ihm die "Staatsanwaltschaft gestellt" habe, und dazu die Antwort geliefert. Das geht aus Stills 83-seitigem Schriftwechsel mit dem Landgericht Duisburg hervor.

Das Verfahren um die Tragödie von Duisburg wirkt inzwischen ziemlich verfahren. Die für den Fall zuständige fünfte große Strafkammer ist um ihre Aufgabe nicht zu beneiden. Die Verteidiger der zehn Beschuldigten können bis zum 25. September Stellung nehmen zu Stills 64 Antworten, die gleichsam die Ergänzung einer Ergänzung sind. Die Staatsanwaltschaft hatte Still bereits nach dessen erster Expertise zahlreiche zusätzliche Fragen geschickt. Mehrere Verteidiger, das lässt sich jetzt schon sagen, werden alles tun, um mit Attacken auf den Gutachter einen Prozess abzuwenden.

Stills Ergänzungs-Expertise bietet viele Angriffsflächen; auch deshalb, weil er teilweise ausweichend antwortet. Zum Polizeieinsatz bei der Loveparade, einem wichtigen Punkt bei der Suche nach etwaigen Schuldigen, schreibt der britische Wissenschaftler sehr wenig. Er sei "nicht qualifiziert", sich zu "deutschen Polizeimaßnahmen bei Überfüllungen" zu äußern. In einem Punkt ist sich Still aber sicher. Die Probleme seien vorhersehbar gewesen. Der Experte vergleicht das mit einem Autofahrer, der den Motor überdreht, über den roten Strich hinaus. Dann steige die Wahrscheinlichkeit eines Motorschadens deutlich.

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