Loveparade-Prozess:Gegen die Zeit

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Der Loveparade-Prozess in Düsseldorf darf höchstens zweieinhalb Jahre dauern - dann ist das Unglück verjährt. Schon der erste Tag zeigt: Das wird eng. Es dauert allein fünfeinhalb Stunden, bis die Anklage verlesen wird.

Von Christian Wernicke

Der Moment des Unglücks: Besucher der Loveparade in Duisburg fliehen am 24. Juli 2010 vom Gelände. (Foto: Erik Wiffers/AFP)

Paco Zapater ist Anwalt, daheim in Tarragona, er weiß, dass die Justiz zäh sein kann. Also behält der 70-jährige Spanier mit dem grauen Haarkranz die Nerven. Fünfeinhalb Stunden vergehen, ehe am Freitag ein Staatsanwalt wenigstens die Anklage verlesen durfte.

"Pure Verzögerungstaktik" sei das, was die Verteidiger zu Beginn des Loveparade-Prozesses betreiben würden. Ein halbes Dutzend Befangenheitsanträge gegen zwei Schöffen und eine Besetzungsrüge erzwingen mehrere Sitzungspausen. Richter Mario Plein wirkt unsicher, immer wieder unterbricht er die Verhandlung. Nichts geht voran. Zapater, der Jurist, zuckt mit den Achseln, ringt sich ein Lächeln ab: "Die Verteidiger spielen auf Zeit, jetzt schon." Jeder hier im Saal am Messegelände in Düsseldorf weiß: Kommt das Gericht bis Juli 2020 zu keinem Urteil, platzt der Prozess. Wegen Verjährung.

Nur, Paco Zapater ist auch Vater. Der Vater von Clara. Das Bild seiner toten Tochter trägt er am Revers, als Erinnerung und als Bekenntnis, warum er und seine Frau Nuria den Weg nach Düsseldorf gemacht haben. Siebeneinhalb Jahre haben Claras Eltern auf den Moment gewartet, da sich ein deutsches Gericht endlich an die Aufarbeitung der Tragödie vom 24. Juli 2010 macht. Am Nachmittag jenes Tages gegen 17 Uhr wurde Zapaters Tochter Clara im Gedränge der Loveparade zu Tode getrampelt, die Studentin war 22 Jahre. 20 Menschen starben mit Clara, 652 erlitten Verletzungen, Unzählige sind bis heute traumatisiert. Zapater schüttelt den Kopf, er sagt: "Es ist unbegreiflich, wie lange die Aufklärung in Deutschland dauert."

Es ist einer der größten Strafprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte, der am Freitag in den Düsseldorfer Messehallen begann. Kein Gerichtssaal der Republik bietet genügend Raum für dieses Verfahren. Die Beweismittel - 117 Bände mit 53 500 Seiten Papier, dazu mehr als tausend Aktenordner ergänzenden Materials - lagern in einem Nebenraum. Rechts vom Richter sitzen im fensterlosen Saal die Nebenkläger: 65 Verletzte und Nachfahren von Todesopfern, begleitet von ihren Anwälten. Vorne links an den weißen Resopaltischen die zehn Angeklagten und ihre 32 Verteidiger, eine Sperrholzwand schützt die PCs vor den Blicken der dahinter platzierten Journalisten. Überraschend bleiben viele der schwarzen Stühle leer: Nur 45 Zuschauer nutzen einen der 234 Plätze. Und doch fehlen drei Stühle. Für drei Männer. Duisburgs damaliger Oberbürgermeister Adolf Sauerland und sein für Sicherheit zuständiger Stadtdezernent Wolfgang Rabe sind ebenso nicht da wie Rainer Schaller, Besitzer der Fitnessstudio-Kette McFit und Chef von Lopavent, der Veranstaltungsgesellschaft der Loveparade. Paco Zapater schwört schon jetzt, dass er wieder nach Düsseldorf fliegen wird, sobald einer dieser Herren oder auch der damalige Einsatzleiter der Polizei in den Zeugenstand treten muss: "Das sind für mich die Schuldigen."

Nur, Recht ist nicht Gerechtigkeit. Deutsche Paragrafen verlangen, jedem Beschuldigten ein individuelles Fehlverhalten nachzuweisen - plus die Beweiskette, dass exakt dieses Versagen Tod und Leid verursachte. "Deshalb gibt es wahre Verantwortliche, die nicht auf der Anklagebank sitzen", sagt Julius Reiter, Zapaters Anwalt. Der 53-jährige Rechtsprofessor vertritt zehn Nebenkläger: eine Überlebende und die Familien von vier Toten. Den Angeklagten im Saal - sechs städtische Beamte, vier Lopavent-Mitarbeiter - unterstellt Reiter zwar keine Absicht. "Aber alle wussten, was sie taten und dass die Sicherheitsauflagen nicht erfüllt sind", sagt Reiter, "deshalb lautet die Anklage ja auf fahrlässige Tötung." Nicht auf Mord oder Totschlag.

Vorn in der Saalmitte, zu Füßen des Gerichts, müsste eine Schlüsselperson der Ermittlungen sitzen. Eigentlich. Doch der Gutachter Keith Still, der britische Professor für "Crowd Safety and Risk Analysis" (von deutschen Medien als "Panikforscher" tituliert), wurde am Freitag vom Gericht nicht mehr geladen. Stills umstrittenes Gutachten hatte dazu beigetragen, dass das Duisburger Landgericht die 556 Seiten dicke Anklage im April 2016 zunächst verwarf, wegen "nicht hinreichenden Tatverdachts" (eine Entscheidung, die ein Jahr später das Oberlandesgericht Düsseldorf korrigierte). Den Duisburger Beschluss von 2016 schmähen Paco Zapater und Anwalt Reiter bis heute als "einen Justizskandal".

Reiters Gegenspielern auf der anderen Saalseite jedoch werden die Einwände von 2016 im Prozess "als eine Art Blaupause" dienen: So sagt es Björn Gercke, der Verteidiger aus Köln. Gercke glaubt, dass Crowd-Forscher Still diskreditiert und "quasi raus ist" aus dem Prozess. Der Anwalt vertritt Kersten Sattler, den Mitorganisator und "künstlerischen Direktor" der Loveparade. Sattler hatte noch einen Tag vor dem 24. Juli 2010 in der WAZ geprahlt, der ehemalige Güterbahnhof von Duisburg werde sich als "ein fast perfektes Eventgelände" erweisen.

Weil Stills Gutachten zum Problem wurde, hat die Staatsanwaltschaft einen zweiten Gutachter bestellt. In Reihe zwei des Messesaals sitzt Jürgen Gerlach, Professor an der Uni Wuppertal. Gerlach kam im Oktober in einem ersten, vorläufigen Gutachten zum Ergebnis, Behörden und Lopavent hätten - grob gesagt - den Tod von 21 Menschen auf dem Gewissen. Auch an Gerlachs Weste wird aber längst geflickt: Der Verkehrsexperte hatte bereits 2015 in einem Interview gesagt, eine Lautsprecheranlage hätte die Tragödie im Tunnel abwenden können: "Bei einer Durchsage 'Gehen Sie nach da und da weiter' wäre das alles nicht passiert." Verteidiger Gercke wird Gerlachs Gutachten in Zweifel ziehen, wegen "vorgefasster Meinung".

Dennoch, es gibt auch Konsens über die Parade, die im Namen der Liebe nur Leid brachte. Nebenklage-Anwalt Reiter wie auch Verteidiger Gercke kritisieren scharf die Rolle der Polizei in den Todesstunden. Die habe die Lage nur verschlimmert, mit erratischen Kontrollen vor dem Todestunnel, mit sinnlosen Sperrketten an jener Rampe, auf der die meisten Opfer verstarben. In Düsseldorf ist allerdings kein Polizeiführer unter den Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft glaubte, die Loveparade sei von vorherein so fatal geplant gewesen, da habe kein Polizist noch irgendwen retten können.

Falls jetzt, nach bald acht Jahren, das Polizeiversagen im Prozess doch noch beleuchtet wird, würde das Gerckes Mandanten, den Lopavent-Planer Sattler, entlasten. Für Paco Zapater wäre es eine kleine Genugtuung: "Denn ein Zweck dieses Prozesses ist", so sagt der Anwalt und Vater, "dass die Wahrheit rauskommt - und dass so was nie wieder passiert."

© SZ vom 09.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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