Strafrechtliche Aufarbeitung der Loveparade-Katastrophe:Das zweite Drama von Duisburg

Duisburg gedenkt der Loveparade-Opfer

Bei der Techno-Parade kamen im Juli 2010 insgesamt 21 Menschen zu Tode.

(Foto: dpa)

Wer ist Schuld an der Katastrophe bei der Loveparade? Die Staatsanwaltschaft ermittelt bereits seit fünf Jahren. Immer noch ist offen, ob es je zum Prozess kommt.

Von Bernd Dörries, Duisburg

Wenn man früher mit Adolf Sauerland reden wollte, da konnte man abends einfach in den Walsumer Hof gehen, ein Restaurant im Norden von Duisburg, vor dem man die zwei Seiten des Ruhrgebiets sehen kann. Direkt vor dem Lokal steht einer der Kühltürme des Kohlekraftwerks, dahinter schlängelt sich der Rhein entlang. Das Grüne und Schöne, und die alte Welt, Stahl und Kohle. Sie leben hier in trauter Nachbarschaft.

Im Walsumer Hof saß Sauerland meist am selben Tisch, es gab guten Fisch und die Leute nahmen einen Schnaps hinterher. Dann gingen sie zu Adolf Sauerland an den Tisch und fragten, ob er nicht dieses oder jenes für sie tun könne. Es war wie eine Bürgersprechstunde.

Seit drei Jahren ist Sauerland nicht mehr Oberbürgermeister von Duisburg, er wurde 2012 abgewählt. Seitdem sieht man ihn nur noch selten im Walsumer Hof. Menschen, die heute Kontakt zu ihm haben, sagen, nach außen wirke er so, als gehe es ihm gut. Wie es innen aussieht, das könne man nicht sagen. Man muss Sauerland nicht mögen, aber fünf Jahre nach der Katastrophe mit 21 Toten auf der Loveparade in Duisburg kann man schon einmal fragen, ob da einem Unrecht widerfahren ist. Ob da einer die Schuld alleine absitzen muss, obwohl so viele Leute Fehler begangen haben.

Sauerland sitzt seit fünf Jahren ein - in seinem Haus

Seit fünf Jahren nun wird ermittelt, wer eigentlich schuld war, wer verantwortlich ist für so viele Tote, für so viel Leid. Es gibt eine Anklage gegen zehn Beschuldigte wegen fahrlässiger Tötung. Gegen Sauerland wurde nicht einmal persönlich ermittelt, weil er, so die Staatsanwaltschaft, in die Planung der Loveparade nicht eingebunden war. Trotzdem sitzt er nun seit fünf Jahren ein, in seinem Haus in Walsum, so sagen die Bekannten. Er hilft aus im Reisebüro seiner Frau, kümmert sich um die Kinder. Ist das vom Leben geblieben?

Es gibt Menschen in Duisburg, die glauben, Sauerland wäre es nicht so unrecht gewesen, wenn er sich vor Gericht hätte erklären können. Weil es dann einen richtigen Freispruch hätte geben können. So heißt es bei vielen Hinterbliebenen nur: Die da oben, die kommen halt immer davon.

Die Frage ist aber, ob es Sauerland nicht am härtesten getroffen hat von allen. Er hat sich dämlich verhalten nach der Katastrophe, er war zu klein, um diese große Aufgabe zu bewältigen, um Trost zu spenden, um die gebeutelte Stadt wieder aufzurichten. Er wusste nicht, was es heißt, die politische Verantwortung zu übernehmen für solch ein Unglück. Er sah sich selbst als Opfer, die anderen sahen in ihm einen Täter. Sein Name ist mit Schuld behaftet. Ihn hat es erwischt. Die anderen bisher nicht.

Veranstalter Schaller hat sich als Opfer inszeniert

Der Sicherheitschef der Loveparade, der zu den Beschuldigten gehört, arbeitet einfach weiter, ist für die Sicherheit beim Sommerfest des Bundespräsidenten verantwortlich und für die Aktionärsversammlung von Daimler. Der Veranstalter Rainer Schaller hat sich nach der Loveparade selbst als eine Art Opfer inszeniert. Seitdem eröffnet seine McFit-Kette ein neues Sportstudio nach dem anderen. Schaller selbst möchte nichts zu alledem mehr sagen. Alles schon zu lange her.

Sauerland büßt nun schon seit vielen Jahren. Es ist eine Strafe, die viel höher ist als jedes Urteil, das ein Gericht jemals fällen wird gegen die zehn Beschuldigten. Wenn es denn überhaupt zu einem Urteil kommt. Überhaupt zu einem Prozess.

Seit eineinhalb Jahren brütet das Landgericht Duisburg darüber, ob es die Anklage der Staatsanwaltschaft zulassen soll. So etwas kommt nicht oft vor in Deutschland und ist ein deutlicher Hinweis darauf, was die Richter von der Anklage halten. Nicht viel. Zwischenverfahren nennt man diese Prüfung, die in den meisten Fällen nur eine Formalie ist. Die Staatsanwaltschaft erstellt eine Anklage, schickt sie an das Gericht, mit der Bitte auf Zulassung. Die Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung muss höher sein als die eines Freispruchs. Unter diesem Aspekt müssen die Richter eine Anklage prüfen. Dass sie das im Fall der Loveparade immer noch tun, heißt auch, dass sie die Wahrscheinlichkeit bisher nicht sonderlich hoch einschätzen.

Tausende Zeugen hat die Staatsanwaltschaft vernommen

"Für die Hinterbliebenen ist die Situation eine Katastrophe, sie können immer noch nicht abschließen, sie wissen immer noch nicht, wer verantwortlich war", sagt Rechtsanwalt Julius Reiter, der viele Hinterbliebene vertritt. Tausende Zeugen hat die Staatsanwaltschaft vernommen, Dutzende Gutachten erstellt, jahrelang ermittelt.

Das Ergebnis ist dann erstaunlich simpel. Zwei Punkte sind für die Ermittler entscheidend. Die Rampe, die zum Festivalgelände führte, war am Veranstaltungstag durch Zäune verstellt. Statt der vorgesehenen 18,28 Meter war sie an der schmalsten Stelle nur 10,59 Meter breit. Die sechs Angeschuldigten der Stadt Duisburg und die vier beschuldigten Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent hätten die Hindernisse aus dem Weg räumen müssen, dann hätte sich auch keine tödliche Menschenmenge gebildet, so die Staatsanwaltschaft.

Bis heute ist immer wieder von einer Massenpanik die Rede, die das Unglück ausgelöst habe. Um in Panik zu geraten, braucht man aber Platz. Die Toten auf der Loveparade wurden nicht totgetrampelt, sie wurden erdrückt. Zu viele Menschen auf zu wenig Raum. Das ist der zweite entscheidende Punkt der Anklage. Man hätte es wissen müssen.

Wenn man sich heute vor den Tunnel stellt, durch den alle Besucher mussten, dann fragt man sich, warum denn keiner diesen Wahnsinn gestoppt hat. Im Veranstaltungskonzept und in den Genehmigungen finden sich Berechnungen, dass das klappen würde. Die Staatsanwaltschaft sagt, die Beschuldigten hätten sich alles schöngerechnet. In der Wissenschaft sei es Konsens, dass mehr als 82 Menschen pro Meter und Minute nicht durch einen solchen Zugang geschleust werden können. Laut Konzept und Genehmigung seien es aber zwischen 17 und 18 Uhr 132 Menschen pro Minute und Meter gewesen. Das klingt nach einem heftigen Verstoß. Das Problem ist nur, dass niemand sicher sagen kann, wie viele Leute zu welchem Zeitpunkt durch die Schleusen und durch den Tunnel gelaufen sind. Es gibt keine konkreten Zahlen. Aber Hinweise, dass sie sogar unter der genehmigten Zahl lagen. Das würde die Beschuldigten entlasten.

20 hingerotzte Seiten vom englischen Experten

Die Staatsanwaltschaft stützt ihre Anklage vor allem auf ein Gutachten des englischen Experten Keith Still. Der galt bisher als Instanz für Menschenmassen aller Art, soll die Scheichs in Mekka beraten haben. Mittlerweile kann man sich fragen, wie es zu diesem guten Ruf kam. Am 9. Dezember 2011 lieferte Still bei den Staatsanwälten seinen "Final Report" ab, an dem gar nichts final war, der seitdem immer wieder nachgebessert wird. Die Staatsanwälte fragten bei Still damals nach, ob dies tatsächlich sein Gutachten sei, so perplex waren sie über die 20 Seiten, die er da einfach hingerotzt hatte.

Das Gericht hat dem Gutachter 75 Nachfragen gestellt. Vor allem will das Gericht wissen, wie viele Menschen denn nun wirklich am Ort waren. Es gibt Hunderte Stunden Filmmaterial. Nur wirkt das Gutachten so, als habe Still keine Lust gehabt, sich das anzuschauen. Es ist in weiten Teilen eine theoretische Analyse, ein ziemlicher Witz. Darüber sind sich mittlerweile die Anwälte der Beschuldigten und der Hinterbliebenen einig. Das Loveparade-Verfahren könnte eines der größten in der Geschichte des Landes werden. Es wird womöglich eines, das die Hinterbliebenen enttäuscht wie kein anderes.

Denn schon lange fragen sie sich, warum viele gar nicht auf der Anklagebank sitzen werden. Rainer Schaller zum Beispiel war zwar Geschäftsführer des Veranstalters, er hatte aber eine Berliner Kanzlei beauftragt, die Schmutzarbeit für ihn zu machen. Wenn man deren Briefe durchliest, die sie an die Beschäftigten der Stadt schickte, hat der drohende Ton etwas von Nötigung. "Die immensen wirtschaftlichen, aber auch ideellen Schäden, die nicht nur der Veranstalterin, sondern auch der Metropole Ruhr und der Stadt Duisburg entstehen, wenn die Veranstaltung abgesagt werden muss, überwiegen die denkbaren Beeinträchtigungen", schreibt Schallers Kanzlei, als es in der Stadtverwaltung Bedenken gibt. Die Staatsanwaltschaft sieht aber keine hinreichenden Anhaltspunkte, auch Schaller anzuklagen.

Die Polizei wird nicht zur Verantwortung gezogen

Dasselbe gilt für die Polizei, die ebenfalls nicht zur Verantwortung gezogen wird. Dabei finden sich in der Anklage Sätze, die das durchaus gerechtfertigt erscheinen ließen. Am Unglückstag merkten die Polizisten, dass sich etwas staute im Tunnel. Mehrere Polizeiketten wurden gebildet, damit nicht immer mehr Menschen dorthin kamen, wo sich schon viele Besucher drängten. Das war gut gemeint, aber, so steht es in der Anklage, gerade die Polizeiketten hätten zu einem Rückstau geführt, also maßgeblich zum tödlichen Gedränge beigetragen. Trotzdem sitzt kein Polizist auf der Anklagebank, was dem Verfahren den Ruf eingebracht hat, es sei auch politisch gesteuert.

Innenminister Ralf Jäger hat die Polizei unmittelbar nach der Katastrophe freigesprochen. In der Zeit danach hat er immer wieder betont, dass alle unabhängigen Untersuchungen keine Fehler ergeben hätten. Doch was bedeutet hier "unabhängig"? Jäger meint damit, dass die Kölner Polizei das Vorgehen der Duisburger Kollegen untersucht hat. "Die Polizei ist doch wie ein Dorf, da kennt jeder jeden und duzt ihn", sagt einer aus der Justiz, der mit dem Verfahren betraut ist. "Es ist nicht selbstverständlich, dass sich die Opfer und die der Tat Beschuldigten auf einer Seite sehen", schrieb Rechtsanwalt Jürgen Wessing, der einen Repräsentanten der Stadt vertritt: "Dass die Verantwortung der Polizei im Laufe des Verfahrens einfach wegdiffundierte, vermögen beide nicht zu verstehen."

Das Gericht hat dem Gutachter Still jetzt auffällig viele Fragen geschickt, die sich um das Verhalten der Polizei drehen. Nur: Ein weiteres Verfahren wird es vermutlich nicht geben. Mit dem fünften Jahrestag der Katastrophe drohen mögliche Vergehen noch nicht angeklagter Beteiligter zu verjähren.

Eine Katastrophe, die juristisch schwierig zu verfolgen ist

Die Duisburger Staatsanwälte haben keine sehr mutige Anklage vorgelegt. Sie haben sich aber ein Verfahren angeschaut, das gezeigt hat, wie schwierig es ist, eine solche Katastrophe juristisch zu verfolgen. Im Jahr 1996 brannte der Düsseldorfer Flughafen, es starben 17 Menschen. Das Gericht konnte zwar zahlreiche Verstöße gegen Vorschriften nachweisen, stellte das Verfahren aber gegen die Zahlung einer Geldstrafe ein. So viel Leid, so wenig Schuld. "Die schrecklichen Folgen der Brandkatastrophe", so der Richter damals, "dürfen nicht den Blick darauf verstellen, dass im Bereich der strafrechtlichen Verantwortung allein die etwaige persönliche Schuld eines Angeklagten zu beurteilen ist, was generell bedeutet, dass trotz der verheerenden Folgen des Brandes die persönliche Schuld eines Angeklagten gleichwohl gering sein kann."

Fünf Jahre Ermittlungen und Prüfen der Anklage. Dann wahrscheinlich zwei Jahre Verfahren. Und am Ende, so glauben viele Beteiligte, werde mutmaßlich nicht mehr stehen als ein oder zwei Jahre auf Bewährung. Persönliche Schuld müsste nachgewiesen werden. Ist das Gerechtigkeit, fragen sich die Hinterbliebenen schon jetzt. Es sei schwer zu sagen, ob die Anklage zugelassen werde, sagt einer aus der Duisburger Justiz. Auf der anderen Seite ist es kaum vorstellbar, dass alles eingestellt wird. Dafür ist der öffentliche Druck zu hoch. Das Landgericht hat bereits eine Halle im Düsseldorfer Kongresszentrum reserviert. Für etwa 140 Prozesstage im Jahr. Einmal im Monat fragen die Leute der Messe beim Gericht nach, ob es denn bald losgehe. Nein, sagt das Landgericht dann. Noch sei es nicht so weit.

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