London:Der Big Ben hat Glockenpause

London: Ein Wahrzeichen Großbritanniens: Der Big Ben wurde vorübergehend deaktiviert.

Ein Wahrzeichen Großbritanniens: Der Big Ben wurde vorübergehend deaktiviert.

(Foto: AFP)

In Großbritannien bestimmt die Deaktivierung des Big Bens derzeit die öffentliche Debatte, und das trotz Brexit. Der Glockenturm soll während der Renovierungsarbeiten verstummen - und alle regen sich auf.

Von Alexander Menden, London

Auch während der Sommerpause gibt es ein paar Dinge zu besprechen in der britischen Politik. Da sind die Positionspapiere zum künftigen Verhältnis Großbritanniens zur EU, die nur knapp fünf Monate nach dem Beginn der Brexit-Verhandlungen veröffentlicht wurden. Da ist der Skandal, dass keiner der ehemaligen Bewohner des abgebrannten Londoner Grenfell Tower bisher eine neue permanente Bleibe gefunden hat. Und dann ist da die Frage: Ist es hinzunehmen, dass Big Ben für vier Jahre schweigen soll?

Es verrät einiges über den Zustand Großbritanniens, dass Big Bens vorübergehende Deaktivierung die mit Abstand aufgeregtesten Reaktionen bei den Parlamentariern ausgelöst hat.

Dabei ist alles ganz einleuchtend: Die fast 14 Tonnen wiegende Glocke schlägt seit 1859 zur vollen Stunde. Seitdem ist der neugotische Elizabeth Tower, in dem sie hängt, sehr baufällig geworden. Der wohl berühmteste Uhrturm der Welt muss, wie der gesamte Palace of Westminster, generalüberholt werden. Die Arbeiten, die kommenden Montag beginnen, werden voraussichtlich vier Jahre dauern; unter anderem soll ein neuer Aufzug eingebaut werden, was aufwendig ist. Nun ist Big Ben aber so laut - sein Schlag entwickelt 120 Dezibel -, dass er eine ernsthafte Gefahr für das Gehör der Arbeiter in ihrer Nähe darstellen würde. Geplant ist, die Glocke einstweilen abzustellen, und sie nur zu besonderen Anlässen zu reaktivieren.

Politiker sind über die geplante Abschaltung entsetzt

Statt dies als kleines, notwendiges Übel hinzunehmen, äußern die Politiker in Westminster parteiübergreifend Entsetzen. Premierministerin Theresa May hat aus dem Urlaub die Meinung beigesteuert, es könne "doch einfach nicht sein", dass Big Ben so lange abgeschaltet werde - eine Reaktion, die ungleich schneller erfolgte als eine unmissverständliche Verurteilung von Donald Trumps neonazi-freundlichen Einlassungen.

Brexit-Minister David Davis sagte, was er in Bezug auf seinen Beitrag zu den Brexit-Verhandlungen selbst oft zu hören bekommt, indem er fordert, die Arbeiten einfach "mal zügig anzugehen". Der Labour-Abgeordnete Steve Pound erinnerte daran, die Glocke habe "sogar während des deutschen Blitzkriegs" geschlagen: "Die Luftwaffe konnte sie nicht zum Schweigen bringen, aber Arbeitsschutzvorschriften haben es geschafft!", Big Ben sei "ein Symbol der Stabilität". Auch der Tory James Gray nannte den Plan "verrückt". Er findet, Big Ben sei "furchtbar wichtig für das Wohlbefinden der Nation".

Selbst die leidenschaftlichsten Big-Ben-Fürsprecher geben zu, dass niemand die Glocke braucht, um herauszufinden, wie viel Uhr es ist. Doch ebenso wie etwa die "Shipping Forecast", die berühmte Meldung des Seewetterdienstes auf Radio 4, wirkt der Klang des stündlichen Schlags als Konstante, die in Zeiten der Unsicherheit anscheinend manchem Halt verschafft. Bezeichnend ist dabei, dass gerade die Politiker, die im Schatten des Elizabeth Tower arbeiten, sich von Big Bens Verstummen bedroht fühlen. Bei ihnen vermischt sich das Unbehagen angesichts der Veränderung von Alltagsgewohnheiten mit einer nostalgischen Überfrachtung von Wahrzeichen britischer Identität. Und darin manifestiert sich wieder einmal der Geist des Brexit.

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