Lilo Wanders:Körpersaft und Rindsrouladen

Sie ist die große, alte Dame des deutschen Sexfernsehens - auch, wenn sie mit diesem Genre längst abgeschlossen hat. Jetzt sähe sich Ernst-Johann Reinhardt, wie die androgyne Diva eigentlich heißt, lieber in einer Seifenoper. Oder in einem neuen Fernsehmagazin. Nur bitte nichts mehr mit nackten Menschen... Von Martin Zips

Hamburg, Reeperbahn, St. Pauli. Ein ganz normales Viertel. Die Kindertagesstätte Zapperlott macht einen Vormittagsausflug, Mütter stehen bei Lidl an, Obdachlose kauern vor dem China-Restaurant Mandarin. In einer Seitenstraße sitzt Ernst-Johann Reinhardt, 49, in einem sehr bunten Ohrensessel.

Lilo Wanders, ddp

Heißt es in einem Fernsehquiz mal: "Diven gegen Transvestiten", so sitzt Lilo Wanders - natürlich - im Team der Diven.

(Foto: Foto: ddp)

Herr Reinhardt hat Bibliothekswesen studiert und war bei einer Versicherung. Dann wurde er Schauspieler. Er ist groß und seit 20 Jahren mit Brigitte aus Ostfriesland verheiratet. Mit Brigitte hat er drei Kinder. Zudem ist "Ernie" schwul und verkleidet sich als Frau. Dann ist Ernst-Johann Reinhardt Lilo Wanders.

"Wahre Liebe" war einmal

Seine Agentin sagt, man dürfe ihn nur besuchen, wenn man sich mit Lilo Wanders unterhalten möchte. Herr Reinhardt sagt, dass man auf jeden Fall alle Fotos mitbringen soll, die neben dem Text in der Zeitung veröffentlicht werden könnten. Er möchte die schlechten aussortieren.

In einem Interview haben wir gelesen, dass Reinhardt - oder war es Wanders? - gerne Rindsroulade und belgische Pralinen isst, bevor er mit jemandem ins Bett steigt. Es gibt wesentlich unkompliziertere Termine. So ein Thema kann schnell peinlich werden.

Darum erst einmal Fakten: Zehn Jahre lang moderierte Ernst-Johann Reinhardt, Sohn eines Kaufhausbesitzers aus der Lüneburger Heide, das Erotik-Magazin Wa(h)re Liebe bei Vox. Durchschnittlich eine Million Leute sahen zu, wenn er Beiträge über den Zuckergehalt von Sperma, Kopulationsrekordversuche in Amerika oder Sauna-Clubs in Ostdeutschland ansagte.

Ohne Perücke im Herrenpulli...

Die Redaktion habe sich stets um "eine journalistisch saubere Aufarbeitung des Themas Sexualität" bemüht, meint er nun in seiner Wohnung. Auf einem Glastischchen stehen Kaffee und Mürbeteiggebäck. Rindsroulade und belgische Pralinen gibt es nicht.

Ende Dezember ist seine von der Spiegel TV-Tochter a+i verantwortete Sendung - am Ende ein Making-Of neuester Schmuddelfilme - eingestellt worden. Man möchte mehr gebildete Zuschauer ansprechen, erklärte Vox. Unauffällig endete so nach vielen Jahren der Reeperbahn-Ausflug des deutschen Fernsehens.

Wie geht es nun weiter mit Lilo Wanders? Ohne Perücke, aber mit frisch gezupften Augenbrauen sitzt sie in Jeans, Herrenpulli und Slippern vor uns. Inmitten von sehr vielen Büchern und Koffern hält sie eine Clark-Gable-Tasse in der Hand, raucht viele Lucky Strikes und sagt leicht säuerlich: "Natürlich hätte ich gerne weiter gemacht. Aber nun haben es andere für mich entschieden. Das Kapitel Erotik-Fernsehen jedenfalls ist für mich ganz und gar abgeschlossen."

Keinen Bock mehr auf Rindsrouladen-TV. Soll doch Vera am Mittag mit dem Zeug weitermachen. Soll doch Premiere die Betten wackeln lassen. Lilo Wanders habe sich nie nur auf ihren Körper, sondern auch auf ihren Geist verlassen: "Deshalb wird sie weiterleben."

Mit Sex voll im Trend

Das mit dem Sex im deutschen Fernsehen begann Anfang der achtziger Jahre, als die Privatsender mit angestaubten Lederhosen-Filmchen lockten. Erika Berger lehrte uns das Wort Orgasmus ("Jetzt sagen's doch einmal. Is ja nix Schlimmes") und Hugo Egon Balders Tutti Frutti fiel gelegentlich sogar in Drei-D aus der Glotze.

Bald darauf war bei Liebe Sünde zu erfahren, was sich hinter Begriffen wie Pärchenkabine, Kontaktlandschaft oder Karussell-Video-Show verbirgt; anders als in den Shops auf St. Pauli musste er dafür noch nicht mal klebrige Plastikvorhänge beiseite schieben.

Ab 1994 klärte auch Lilo Wanders auf, führte Pennäler und Professoren an den Lackleder-Wühltisch, informierte über Windelfetischisten, Körpersaftmaler, Stierhodenextrakte, Aids und Syphilis. Auf St.Pauli mag das alles bekannt gewesen sein. Für den Westerwald war es neu.

Körpersaft und Rindsrouladen

Irgendwann hatten die zuständigen Redakteure wirklich jeden Geschlechtsreifen interviewt, jede Körperöffnung beleuchtet und fast jedes Tabu gebrochen. Deutschland interessierte nicht mehr der Samen-, sondern nur noch der Reformstau. Die Menschen beschäftigten sich lieber mit Schulen statt mit Schwulen.

Da wurden die Werbeblöcke von Wa(h)re Liebe sogar von Damenbindenherstellern nicht mehr gebucht. Lilo Wanders musste gehen. Und mit ihr Ernst-Johann Reinhardt, genannt Ernie.

Eingetragenes Warenzeichen

Sein Vater sei ein kleinwüchsiger, buckliger Mann gewesen, der unter den Folgen der Kinderlähmung gelitten habe, erinnert sich Reinhardt. Als er starb, war Ernie fünf Jahre alt. Überaus liberal sei der Vater gewesen, ebenso wie die Mutter, die es kaum überrascht habe, als sich Ernie am 16. Geburtstag outete. "Das habe ich mir schon lange gedacht", habe sie gesagt.

Neben Bildbänden mit erotischen Zeichnungen von Tomi Ungerer und Filmszenen mit Bette Davis, gegenüber von gerahmten Männerakten und einem zerwühlten Bett, lacht Reinhardt heute über sich und sein Leben. Depressionen und Alkoholsucht hat der Mitgründer des Hamburger Schmidt-Theaters offenbar lange überwunden.

Und mit der gelernten Sozialarbeiterin Brigitte, so sagt er, werde er noch in 20 Jahren glücklich verheiratet sein. Kurz betritt die kleine, kurzhaarige Frau das Zimmer. Sie sagt nichts. Sie lächelt.

Die Wanders lebt tatsächlich weiter. Spielt in Moritz Rinkes Der graue Engel Marlene Dietrich. Tourt erfolgreich als Evelyn Künneke in Ernie Reinhardts eigenem Werk Die Mythomanin durchs Land. Künneke habe er schon als Jugendlicher verehrt, sagt Reinhardt.

Androgyne Sexbombe

päter, als er mit kleineren Rollen in der Schwulenszene reüssierte, nahm er sie sich für seine liebevoll-mokante Kunstfigur Lilo Wanders als Vorlage. Als Teil der mit einem Grimme-Preis ausgezeichneten Schmidt-Mitternachtsshow wurde Lilo berühmt. Und als auf Vox ein Moderator für ein Erotik-Magazin gesucht wurde, kam man schnell auf Wanders.

Heute ist die androgyne Sexbombe aus Hamburg ein eingetragenes Warenzeichen beim Münchner Patentamt, darf gelegentlich in Kultursendungen auftreten und begeistert Neue Revue sowie FAZ gleichermaßen. Heißt es in einem Fernsehquiz mal: "Diven gegen Transvestiedarsteller", so sitzt sie - natürlich - im Team der Diven.

Auch außerhalb Deutschlands kennt man Lilo Wanders. Selbst aus Rio und Bagdad erhält sie Fanpost. Eine Künstlerin aus St. Petersburg schenkte ihr jüngst ein Porträt, das nun in Öl auf Leinwand über ihrem Sofa mit den Herzkissen hängt. Die Menschen behandeln Wanders mit Respekt. "Wenn ich als Lilo aus der Maske komme, wechselt jeder sofort das Pronomen", sagt ihr Erfinder.

Seine Dame-Edna-Figur - freundlich wie Mary Poppins, unnahbar wie Greta Garbo - werde noch so lange leben, bis seine Asche im Garten verstreut sei. Eine Soap mit Lilo könne er sich nun vorstellen. Oder ein neues Fernsehmagazin. Nur bitte nichts mehr mit nackten Menschen. Die "Scheinheiligkeit der Werbeindustrie", sagt er, "nervt mich gewaltig. Jede Margarine wird mit Sex beworben, aber im Dunstkreis von Wa(h)re Liebe fürchteten alle um ihr Image."

Draußen auf der Reeperbahn ist es kalt und dunkel geworden. Die Kinder sind verschwunden, die Supermärkte längst geschlossen. Nur noch Theater, Sex-Shops und Bordelle leuchten ihre Botschaften in die Nacht. In einer Seitenstraße im dritten Stock sitzt Ernst-Johann Reinhardt, ehemals die große alte Dame des deutschen Sexfernsehens, bei Kaffee und Mürbeteiggebäck auf einem sehr bunten Ohrensessel. Er wartet auf neue, große Angebote.

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