Legendenbildung:Der Mythos Odessa

Die Gerüchte um ehemalige Nazigrößen, die nach dem Zweiten Weltkrieg über eine "Rattenlinie" nach Argentinien gelangten, ist im Wesentlichen eine Fiktion. Wie ein Buch zeigt, hat es eine großangelegte Fluchtorganisation wohl nie gegeben.

Carlos Widmann

Wenigstens hat der Tatort sich nicht in Luft aufgelöst. Noch heute gibt es in Straßburg das Hotel "Maison Rouge" (einst "Rotes Haus"). Es ist aber auch das einzige noch greifbare Beweisstück für eine faszinierende Geschichte, die in Bestsellern verbreitet wurde und in der Presse ausgiebig belegt schien: die Straßburger Geheimkonferenz vom 10. August 1944.

Josef Mengele

Unter den deutschen Argentinien-Einwanderern befanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg die übelsten Judenmörder wie Josef Mengele, doch eine weltumspannende Nazi-Verschwörung hat es nicht gegeben

(Foto: Foto: AP)

Damals hätten hier die Wirtschaftsführer des Dritten Reiches und die SS die Weichen gestellt für das Nachleben der Nazis und des Nazismus. "Vier Milliarden Goldmark" mussten ins Ausland transferiert werden, um - wie Simon Wiesenthal schrieb - die "größte Fluchtorganisation der Weltgeschichte aufzubauen".

Es galt, so der Amerikaner Carl Oglesby, "für Zehntausende SS-Männer und Nazi-Kriegsverbrecher, auf die der Galgen wartete, Unterschlupf in deutschen Kolonien im Ausland zu finden". Eine Spiegel-Serie wurde 1967 mit Fotos des Maison Rouge illustriert.

Alibi KZ-Haft

Unter den Teilnehmern saßen laut Wiesenthal 1944 der Kohlebaron Emil Kirdorf und die Stahlmagnaten Fritz Thyssen und Gustav Krupp. Nur, Kirdorf war 1938 gestorben, Krupp hatte 1943 wegen Senilität die Konzernleitung abgegeben, und auch Thyssen hatte ein solides Alibi: Er saß damals im KZ Sachsenhausen.

In "Odessa und das Vierte Reich" hat Heinz Schneppen, einst deutscher Botschafter in Paraguay, über die Unzerstörbarkeit von Verschwörungsmythen nachgedacht. Deren Stärke bestehe zum Teil darin, dass etwas, das nicht existiere, sich auch kaum widerlegen lasse. Weshalb der Autor den Anspruch stellt: Einer falschen Behauptung sei der Boden erst entzogen, wenn man auch erklären könne, wie sie zustande kam.

Das kann man nun. Im Roten Haus fanden in der Tat einige Treffen deutscher Manager mit der "Verbindungsstelle Frankreich" der gewerblichen Wirtschaft statt. Worauf ein französischer Informant den Alliierten eine plausibel wirkende Geschichte über deutsche Industrielle und Militärs andrehen konnte, die in Straßburg Pläne für die Zeit des "Zusammenbruchs" beraten hätten.

Es sei ums Überleben von Firmen und Patenten und ums Abtauchen von Parteibonzen in den Betrieben gegangen - auf dass irgendwann wieder "ein starkes Deutsches Reich" auferstehen werde. 1945 zitierte Henry Morgenthau, der von Präsident Truman entlassene Finanzminister Roosevelts, dies in seinem Buch "Germany is Our Problem", um die Gefährlichkeit der Deutschen zu beweisen.

Laut Schneppen verknüpfte Wiesenthal 1967 die Straßburg-Legende mit dem älteren Mythos der "größten Fluchtorganisation der Weltgeschichte", deren Name finstere Beschwörungskraft hatte: Odessa - Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen.

Phantasie statt Beweisen

Von dieser will Wiesenthal 1950 von einem Abwehr-Mann erfahren haben, einem "Hans", der von einer weltweiten "SS-Untergrundbewegung" wusste: Alle 40 Kilometer konnten die Schergen mit einer "Anlaufstelle" rechnen, um über die "Klosterroute" - auch "Rattenlinie" genannt - via Genua ins Argentinien des Diktators Perón zu gelangen.

Der Thriller-Autor Frederick Forsyth hat die Story im Weltbestseller "Die Akte Odessa" verarbeitet, wo der Mangel an Beweisen endlich ganz durch blühende Phantasie ausgeglichen wurde.

Gestandene Historiker haben sich dem Thema erst spät gewidmet. In Holger Medings "Flucht vor Nürnberg?" (1992) lag die Betonung bereits auf dem Fragezeichen, und seitdem Argentinien seine Archive öffnete, macht sich weitere Ernüchterung breit.

Die von einer Kommission erstellte Liste deutschsprachiger "criminales de guerra" umfasst 23 Namen und schließt Schergen ein, die - wie Klaus Barbie und Walter Rauff - Argentinien nur zur Durchreise benutzten.

Wahr bleibt, dass in der deutschen Kolonie in Argentinien viele mit den Nazis sympathisierten. Richtig ist auch, dass sich mit den 45.000 deutschen Nachkriegseinwanderern die übelsten Judenmörder einschmuggelten: Adolf Eichmann und Josef Mengele.

Und anders als im besetzten Deutschland konnten Nazis sich am Rio de la Plata ungeniert publizistisch entfalten. Dennoch war "Odessa" eine Fiktion. Nur, ob Fakten sich je gegen Mythen durchsetzen werden?

Die "Verlockung bequemer Kurzschlüsse" (Schneppen), entspricht den Erwartungen des Publikums. Die "Akte Odessa" fand eine Millionen-Leserschaft; die Zertrümmerung des gleichnamigen Mythos wird sich mit unendlich weniger begnügen müssen.

HEINZ SCHNEPPEN: Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte. Metropol Verlag, Berlin, 2007. 279 Seiten, 19 Euro.

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