Lebenslang im Prozess um Morsal O.:Mord aus Intoleranz

"Er tötete seine Schwester, weil sie wie ein deutsches Mädchen leben wollte", sagt der Richter. Ahmad-Sobhair O. muss lebenslang hinter Gitter. Im Gerichtssaal prallen Welten aufeinander.

J.Schneider

Es gibt nur einen Moment der Stille an diesem Morgen. In den Sekunden, als der Vorsitzende Richter Wolfgang Backen in den Saal kommt, verstummt das nervöse Zischeln im Saal, wo manche seit einer Stunde angespannt auf das Urteil warten.

Lebenslang im Prozess um Morsal O.: Ahmad-Sobhair O. muss lebenslang hinter Gittern.

Ahmad-Sobhair O. muss lebenslang hinter Gittern.

(Foto: Foto: Reuters)

Für diesen Augenblick lassen auch die Blicke der Reporter ab von der Familie des Opfers Morsal und des Angeklagten Ahmad-Sobhair, ihrem Bruder. Sein Vater, die Mutter, die Geschwister stehen nun in der ersten Reihe im Zuschauersaal eng beieinander.

Dann verkündet der Vorsitzende Richter das Urteil: Lebenslänglich wegen Mordes an seiner Schwester, und nach diesen wenigen ersten Worten entlädt sich die ganze Anspannung, die über diesem Verfahren gelegen hat. Ein lauter Aufschrei der Mutter gellt durch den Saal. Ihr lautes Wehklagen dringt in der folgenden Stunde ständig durch den Raum, während der Richter das Urteil begründet.

Die Familie schreit gegen das Urteil an, das sie nicht wahrhaben will. Ein jüngerer Bruder schlägt mit den Fäusten auf die Sicherheitswand ein, mit der die Zuschauer vom Gericht getrennt werden. Weil er laut brüllt, wird der Junge später von Ordnern herausgeführt. Im Saal treffen Welten aufeinander: Hinter der Familie springen Zuschauer auf und jubeln. Einer reißt aus Freude über das Urteil den Arm hoch.

Es war vor einem Jahr im Mai, als der 24 Jahre alte, in Kabul geborene Ahmad-Sobhair O. seine 16 Jahre alte Schwester auf einem Parkplatz in Hamburg mit 23 Messerstichen tötete.

Er habe Morsal im Namen der Ehre ermordet, sagt nun der Richter. Er sei der Auffassung gewesen, dass Morsal durch ihr Verhalten ihre Ehre und die der Familie beschmutzte - mit knapper Kleidung, auffälliger Schminke, ihrem Interesse für das andere Geschlecht. "Er tötete aus reiner Intoleranz." Morsal habe sterben müssen, weil sie nicht nach den sehr strengen Regeln afghanischer Tradition leben wollte, sondern wie ein deutsches Mädchen.

Sie habe in der Familie ein jahrelanges Martyrium durchlebt, schildert Backen die Geschichte der Familie aus Afghanistan, die nach Deutschland gekommen sei, sich aber nicht integriert habe. Vor allem die Frauen in der Familie seien in Unfreiheit gehalten worden. Doch Morsal "hatte ihre eigenen Kopf". Sie sei - er zitiert ihren Klassenlehrer - selbstbewusst und fröhlich gewesen.

Weil sie eigene Wege gehen wollte, sei das Mädchen geschlagen und drangsaliert worden. Für ein Jahr sei sie unter einem Vorwand nach Afghanistan gebracht worden, zu lernen, nach den dortigen Traditionen zu leben. Vor allem der Angeklagte habe sich von den Eltern beauftragt gefühlt, sie zum Verzicht auf Freiheiten zu erziehen, die er selbst sich herausgenommen habe.

Der Richter erinnert daran, wie Morsal Gewalt angetan, wie sie bedroht wurde. Wie sie davonlief, die Polizei rief, Zuflucht bei Jugendämtern suchte, aber auch zur Familie zurückkehrte, von der sie "hoffte, dass sie sich ändern werde". Vor allem zum älteren Bruder habe sie ein ambivalentes Verhältnis gehabt, auch seine Nähe gesucht. Doch als er keine Chance mehr sah, sie zu kontrollieren, habe er den Mord geplant und mit diesem Vorsatz am Tatort gewartet.

Genau diesen Vorsatz hat die Verteidigung bestritten, von einer Tat im Affekt gesprochen und auf Totschlag plädiert. Das Gericht folgt ihrer Argumentation so wenig wie der Einschätzung der Gutachterin im Verfahren, die wegen einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung von verminderter Schuldfähigkeit des Täters sprach.

Verteidigung kündigt Revision an

Die Verteidigung, die bereits Revision ankündigte, lehnte es auch ab, die Tat als Mord im Namen der Ehre zu werten und sprach von einer Familientragödie. "Was ist eine Ehre?" brüllt Ahmad O. nun den Richter an. "Was ist das? Ich kenne keine Ehre." Und als der Vorsitzende erklärt, dass diese Tat auch in Kabul strafbar wäre, ruft er: "Nee, da wäre ich schon längst wieder draußen."

Über die Eltern von Morsal und Ahmad-Sobhair O. sagt der Richter, dass über ihre Schuld nicht zu befinden gewesen sei. Doch sie hätten ihren Sohn zu ihrem moralischen Vollstrecker gemacht. Sie treffe "eine hohe moralische Mitschuld". Die Mutter hatte während des Prozesses die Aussage mit den Worten verweigert, dass sie zwei ihrer Kinder verloren habe. Sie verlässt schreiend den Gerichtssaal. Auf dem Gang versucht sie, so sagen Augenzeugen, sich aus einem Fenster des Gerichts zu stürzen.

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