Lampedusa:Im Büchermeer

Lampedusa: "Wir ertrinken jetzt in Büchern", sagte Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin der Insel Lampedusa.

"Wir ertrinken jetzt in Büchern", sagte Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin der Insel Lampedusa.

(Foto: Imago Stock&People)

Auf Lampedusa gibt es viele Probleme, die Menschen dort fühlen sich von der Welt allein gelassen. Doch eines haben sie auf der Insel jetzt genug: Bücher. Über einen öffentlichen Aufruf und seine Folgen.

Von Alex Rühle, Lampedusa

Bücher. Überall Bücher. Paletten, Pakete, Tüten. Man kommt kaum rein in dieses Büro im Bürgermeisteramt von Lampedusa. Die Kisten stapeln sich bis unter die Decke. Sie kommen aus Rom und Mailand, aber auch aus Großbritannien, Brasilien und Finnland. Gebrauchte Kinderbücher, neue Comics, Lexika, Lesefibeln . . .

"Auf dem Postamt haben sie auch noch ein ganzes Zimmer voll. Am Flughafen auch. Wir ertrinken jetzt in Büchern. So war das nicht gemeint", sagt Bürgermeisterin Giusi Niccolini lachend und zieht die Tür wieder zu. Dann muss sie los, die Kameras hetzen hinter ihr her, Pressekonferenz, die 350 Toten, ein Minister wird erwartet.

Das war vor sechs Wochen, als die Weltöffentlichkeit hier mal wieder vorbeischaute: Ein überladener Schlepperkahn war nachts nahe der Küste gekentert, in Sichtweite des Hafens waren 350 Menschen ertrunken. Der Papst, den sie hier heiß und innig lieben, weil seine allererste Dienstreise ihn auf dieses abgelegene Eiland führte, der Papst also sprach von der "Schande Europas". Verständlich, dass Giusi Niccolini damals beim besten Willen keine Zeit hatte, um die rätselhafte Bücherschwemme zu erklären. Sie sagte im Weglaufen nur noch: "Frag Deborah, sie kann dir das alles erklären."

Die einsamste Insel des Mittelmeeres

Deborah Soria lebt als Bibliothekarin in Rom. 2011 sah sie in den Nachrichten immer neue Bilder vom überfüllten Flüchtlingslager auf Lampedusa: Der arabische Frühling, der Bürgerkrieg in Libyen, die Unruhen in Ägypten - Tausende Nordafrikaner stiegen damals auf die ohnehin überfüllten Schlepperboote und versuchten nach Lampedusa überzusetzen, Italiens Vorposten, die einsamste Insel des Mittelmeeres, die eigentlich nur aus Fels und einem kleinen Dorf besteht. Das ohnehin armselige Auffanglager am Rande des Dorfes platzte damals aus allen Nähten, eigentlich können dort vorübergehend 300 Menschen versorgt werden, im Herbst 2013 drängten sich aber 1500 Menschen auf dem Gelände.

Damals erzählte Deborah Soria einer resoluten Umweltaktivistin, die von der Insel stammt, von ihrer Idee, für alle Flüchtlingskinder eine ganz besondere Bibliothek zu bauen: Bücher nur mit Bildern. Comics, Kunstbände, Bilderbücher. Kurzum Bücher, die man versteht, auch wenn man keine europäische Sprache spricht. Auch wenn man nicht lesen kann. Die Insel ist arm und kann all den Flüchtlingen wenig bieten. Italien tut auch kaum etwas für all die hier strandenden Menschen. Wäre da eine solche Bibliothek nicht ein Symbol für die Gastfreundschaft und zugleich alltagspraktische Hilfe?

Auch ohne Flüchtlinge eine Art Notstandsgebiet

Die resolute Aktivistin antwortete mit einer Frage: "Du weißt aber schon, dass auf der Insel auch 600 italienische Kinder leben?" Diese Aktivistin war Giusi Nicolini, die kurz darauf zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Ihr Satz erst öffnete Soria die Augen: Lampedusa ist auch ohne Flüchtlinge eine Art Notstandsgebiet. Nein, niemand muss hier sterben, niemand muss Hunger leiden. Aber die Bewohner fühlen sich von Italien und der Welt allein gelassen und vergessen.

Sind sie ja auch. Klar, wenn wieder eine Katastrophe passiert, gibt es weltweite Schlagzeilen. Die Journalisten fliegen ein, greifen Geschichten ab und sind dann wieder weg. Wie es ein Fischer im Oktober sagte, als der ganze Hafen von internationaler Presse wimmelte: "Du willst, dass ich mich an deiner Schulter ausweine. Aber morgen bist du wieder weg, und ich sitze weiterhin hier und schau aufs Meer raus."

Sie haben auf Lampedusa kein Kino und kein Schwimmbad, keinen Sportplatz und kein Krankenhaus. Die 6000 Menschen, die hier leben, müssen alles importieren, ihr Trinkwasser genauso wie die Lehrer für das einzige Gymnasium. Gerade erst fiel wieder ein halbes Jahr der Englischunterricht aus, weil die Lehrerin, wie so viele vor ihr, auf und davon ist: Der italienische Staat zahlt den Lehrern auf den Inseln keine Zuschläge. Die Lehrer aber lassen meist ihre Familien in Sizilien zurück und müssen dann pendeln. Wie es die Bürgermeisterin so treffend formulierte: "Möchten Sie etwa in einer Stadt leben, in der es nicht mal einen Buchladen gibt?"

Inselbibliothek für Flüchtlinge und Bewohner

Der Satz stammt aus einem Brief, den Giusi Niccolini im Frühsommer dieses Jahres an die Mitarbeiter des Internationalen Kuratoriums für das Jugendbuch (IBBY) schrieb. Sie wollte über die Dachorganisation für die Inselbibliothek sammeln, die Bibliothek, die jetzt beides sein soll, Empfangsort für die Flüchtlinge und eine Art familiäres Kulturzentrum für das karge Dorf. Der Brief aber fand seinen Weg ins Internet - und seither schicken Menschen aus aller Welt ihre Bücher nach Lampedusa, zum Teil zerfleddertes Zeug, zum Teil fabrikneue Sachen, zehn Bände Proust, Lindgren, skandinavische Poesie.

Paola la Rosa saß während des Katastrophenwochenendes im Innenhof ihres Hauses. Sie lachte damals minutenlang über die plötzliche Bücherschwemme auf dieser Insel, auf der man kein einziges Buch von Alberto Moravia oder Umberto Eco kaufen kann. "Wir haben ja noch nicht einmal das Gebäude, in dem wir das alles herzeigen könnten", sagte sie. "Aber wir haben jetzt für jeden Flüchtling ein eigenes Bücherpaket."

Lampedusa

Flüchtlinge sitzen auf Lampedusa am Meer.

(Foto: Filippo Monteforte/AFP)

La Rosa hat früher in Sizilien als Anwältin gearbeitet. Seit sie vor zwölf Jahren nach Lampedusa zog, ist sie hier zu einer Art lebendem Info-Point geworden. Sie betreibt mit ihrem Mann eine Pension direkt am Meer, arbeitet in mehreren NGOs mit und hat soeben lauter Bibliothekare und Autoren bei sich beherbergt: Giusi Nicolini hat zusammen mit Ibby und Amnesty International in der vergangenen Woche 40 Buchhändler, Schriftsteller und Mitarbeiter von Flüchtlingsorganisationen auf die Insel geladen.

Die Ruhe nach dem Sturm

Es gab, um das Bibliotheksprojekt endlich voranzutreiben, eine Woche des Buches, Lesungen in allen Bars, in der Schule, in der Kirche. Und es gibt jetzt auch ein designiertes Bibliotheksgebäude an der Via Roma, der Hauptstraße des Dorfes, die so klein ist, dass hier auch zur Hauptverkehrszeit Hunde auf der Fahrbahn schlafen.

Und? Waren denn auch Flüchtlingskinder bei den Lesungen? Nein, sagt la Rosa. "Weil wir gerade gar keine da haben." Die Herbststürme haben angefangen, die Schlepper können nicht mehr in See stechen, es ist ruhig geworden auf der Insel. Im Auffanglager sitzen jetzt noch rund hundert Erwachsene und warten darauf, aufs Festland gebracht zu werden.

Und die Bücherei, wann eröffnet die nun? Noch vor dem Sommer, sagt Paola la Rosa. Der Satz klingt wie: Noch vor dem nächsten Ansturm.

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